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Flüchtlingscamps: Augenwaschen für Europäer

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RawEinwanderung

Lähmende Eintönigkeit, kein Schulangebot, keine Perspektiven, Streitereien innerhalb des Camps, unzureichende medizinische Versorgung und Flashbacks zu Kriegsbildern und grausamen Erinnerungen - der Alltag in den Flüchtlingscamps in Griechenland ist schwer. "Die Europäer sollen herkommen und sich ansehen, wie wir hier leben", fordert ein Geflüchteter. Thomas Schmotz hat es für uns getan.

Das Lagerleben hat tiefe Augenringe in ihr Gesicht gezeichnet. Mit ihrer kleinen Schwester, drei Brüdern und den Eltern teilt die zehnjährige Schahd ein Zelt in Karamanlis Sindos. Im Camp am Rande eines Vororts der nordgriechischen Hafenstadt Thessaloniki leben 600 Menschen. Eine große, staubige Halle aus Backstein, eine frühere Ledermanufaktur. Das nahe gelegene Meer trägt Feuchtigkeit in die Zelte. Moskitos, die sich in den ungepflegten Brachen der angrenzenden Felder ungestört ausbreiten, hinterlassen brennende Stiche an Händen, Füßen, Gesichtern – oder je nach Mückenart dicke Schwellungen, die nur langsam abklingen.

Im Camp hat das griechische Militär das Sagen. Die Kontrolle ist locker. Zwei unbewaffnete Mann in Flecktarn schlendern plaudernd durch das Areal. Die Fabrikhallen waren lange Zeit verlassen, im Frühjahr wurden eilig Zelte aufgestellt. Knapp 60 Camps dieser Art zählt das Gesundheitsministerium in ganz Griechenland. Gut zwei Drittel der 60.000 Flüchtlinge fristen ihr Dasein in solchen Lagern. Nach der Schließung der mazedonischen Grenze und dem EU-Türkei-Deal waren sie eilig aus dem Boden gestanzt worden, das Durchgangslager von Idomeni wenig später geräumt.

„Sie haben mit Tränengas auf uns geschossen“, berichtet Schahd in sachlichem Ton über ihre Erlebnisse in Idomeni. Groll ist darin nicht zu spüren, Schahd scheint sich ihrem Schicksal zu fügen. Die Sonne wirft ihr warmes Licht durch die schmale Fensterzeile in das Innere der Halle. Schahd macht sich nützlich und hilft bei der Verteilung der Rationen. Es gibt Kartoffeln mit Gemüse und ein Stückchen trockenes Brot, zwei Mal am Tag.

Lager ist ein Hexenkessel

Zurück im Familienzelt lässt das Mädchen ihrem Frust freien Lauf: „Es gibt nichts zu tun. Wir warten den ganzen Tag. Man wird einfach nur verrückt. Wenn ich wenigstens wieder zur Schule gehen könnte!“ – Schule, so lautet der größte Wunsch der Kleinen. Das Zelt in der zweiten Halle, Reihe vier, unterscheidet sich kaum von den anderen. Wird der Vorhang aufgezogen, öffnet sich der Blick ins Wohn-Schlaf-Esszimmer der Familie von Schafik Sbihi. Als Taxifahrer hatte er Frau und Kinder gut über die Runden gebracht, damals in Deraa. Von der südsyrischen Stadt aus nahm der Aufstand gegen das Regime seinen Lauf. Heute fassen diese vier Baumwollwände in Sindos alles, was den Sbihis noch geblieben ist. Auf der Holzkiste, dem Familientisch, stehen Tee und eine Schale grüner Trauben. Die Familie war wie viele andere in der Aussicht auf ein offenes Europa aufgebrochen. Die Schließung der Balkanroute kam für sie wie ein Schlag ins Gesicht. „Wenn wir schon nicht weiter dürfen, könnte Europa wenigstens Geld geben“, sagt Schahd. Kürzlich sei sie krank gewesen, eine simple Erkältung. „Über einen Monat lang, denn es gibt keine Medizin für uns“, so das Mädchen.

Eine prekäre Versorgungslage wird aus zahlreichen Camps berichtet. Das bestätigt der 34-jährige Hassan, ein Sanitäter aus Aleppo. Der Kurde kümmert sich in einem Lager nahe Vasilika, einer Ortschaft im Südosten von Thessaloniki, um die Versorgung von über eintausend Menschen. Es gebe zwar Ärzte, aber die verteilten keine Medikamente, sagt er. In seinem Zelt hortet er eine kleine, aber stolze Sammlung: Vitamine für Schwangere, Asthmaspray, Mittel gegen Durchfall sind darunter, von privaten Hilfsorganisationen gespendet. „Mehr als erste Hilfe kann ich nicht leisten“, erklärt er. Die Nachfrage sei riesig, nicht nur nach Medizin. „Jeden Tag haben wir drei oder vier Leute im posttraumatischen Stress. Wenn es nicht mehr anders geht, rufe ich die Ambulanz. Aber die kommt manchmal und manchmal nicht“, so Hassan. „Einmal mussten wir drei Stunden warten. Dann kam der Anruf: 'Braucht ihr uns noch?' – So läuft das hier.“

In Hassans Camp sind Kurden von Arabern getrennt. Es gab Probleme zwischen den Gruppen, berichtet ein Syrer, der unerkannt bleiben möchte. Eine Gang junger Kurden hatte willkürlich Streit vom Zaun gebrochen. Mit Messern seien sie auf andere los gegangen. „Die Leute kämpfen um Kleinigkeiten, um Sachen, die verteilt werden, um einen Stuhl oder um Lebensmittel. Es gibt von allem zu wenig“, sagt der Mann. Die Polizei greife in der Regel nicht ein. Aus Angst, selbst Opfer zu werden, hätten sich viele andere ebenfalls bewaffnet. Jeder zweite Mann trage ein Messer bei sich. „Das Problem ist hausgemacht“, kommentiert der Helfer Johnny Tutton (33). „Das Lager ist ein Hexenkessel. Wenn man Menschen wie Tiere hält, dann sind solche Auswüchse doch kein Wunder“, sagt der Brite.

Umkehrer

Hassans Zelt genießt regen Zulauf. Ständig tauchen neue Gesichter auf, verlangen Medizin oder einen Rat. „Ich gebe immer bloß eine Tagesration Tabletten“, sagt Hassan. „Sonst landen die Pillen womöglich auf dem Schwarzmarkt.“ In einer freien Minute zeigt er Fotos von seinen Einsätzen in Aleppo: Bilder von staubbedeckten Leichen in den Straßen, viele Kinder sind darunter, dann eine Frau im Krankenwagen. Ihr Körper in eine Wolldecke gehüllt, über ihr faltenloses, weißes Gesicht fließen zwei Strähnen frischen Bluts. Ihr starrer Blick verrät nicht, ob sie noch am Leben ist. „Mehr als zwei, drei Stunden pro Nacht kann ich nicht mehr schlafen“, sagt Hassan still. „Solche Szenen habe ich jeden Tag erlebt. Die Bilder laufen wieder und wieder vor meinen Augen ab.“ Vor diesen Erinnerungen erscheinen die Gewaltausbrüche im Camp Nebensache. "Wenn ich jemanden töten will, brauche ich doch einfach nur nach Syrien zurückzugehen“, so Hassan.

Und tatsächlich: das Dilemma treibt so manchen zur Rückkehr. „Über Bulgarien und die Türkei haben sich die ersten auf den Weg nach Syrien gemacht“, so der Helfer Johnny Tutton. Auch für diese Route fänden sich bereitwillige Schleuser. Zum Teil lebten sie sogar in einzelnen Camps.

Fluchtgeschichten

Ali Maleki aus Isfahan denkt nicht daran, umzukehren. Er hat die verbotene, magische Linie nach Mazedonien schon einmal gemeistert. Allein und zu Fuß schlich er sich über die Grenze. „Da begann die schlimmste Zeit, die Wochen im mazedonischen Dschungel“, erzählt der 26-Jährige. „Ich musste mich vor der Polizei verstecken, hatte nichts zu essen bis auf das, was auf den Bäumen wächst.“ Kurz vor der Grenze zu Serbien war Schluss. „Sie haben mich erwischt. Im Gefängnis gab es dann so richtig Prügel.“ Mit einer kreisenden Handbewegung deutet er eine riesige Schwellung am Hinterkopf an. Es folgte die Abschiebung. „Durchs Tor am Grenzzaun haben sie mich geschubst.“ Beim Abtransport ins nächste Lager sei er den griechischen Polizisten davon gerannt. Seitdem lebe er im Park, erzählt Ali. Auf der Freifläche am Rand der Innenstadt von Thessaloniki haben sich dutzende Familien niedergelassen. Hier verbringen sie Tage und Nächte.

„Wir warten auf einen Anruf“, sagt Mina. Mit Ehemann, Bruder, Eltern und Großeltern sitzt die 19-jährige Afghanin auf dem kargen Betonboden. Um sie herum stehen große Koffer. „Wir wollen nach Deutschland“, erklärt sie. Eintausend Euro pro Person koste der Transfer von der griechischen Grenze bis nach Serbien. „Schleuser findet man in Athen“, so Mina. Die Hälfte der Rechnung sei bereits beglichen. Der Rest fließe nach der Ankunft. Im Frühjahr war die Familie aus Afghanistan geflohen. „Unsere Provinz Maidan Wardak ist voller Taliban“, erzählt die junge Frau. Ihr Vater habe Treibstoff für die NATO geliefert. Er sei entführt, bedroht und dann von seiner Firma losgekauft worden. „Wenn du weiter für die Amis arbeitest, töten wir deine Kinder“, diese Worte der Taliban-Kämpfer waren der Anstoß zur Flucht. „Die Europäer denken immer, wir kommen nur aus wirtschaftlichen Gründen. Aber das ist Blödsinn.“ Mina streicht ihr im Wind flatterndes Kopftuch zurecht. „Wir besaßen ein Haus, Land und Tiere. Alles ist verkauft. Wir sind aufgebrochen, weil wir einfach ein Leben wollten“, sagt sie. „Ich habe Bomben vor meinen Augen explodieren sehen, und das nicht nur einmal.“ Mit dem Flieger ging es nach Teheran, Schmuggler brachten die Familie anschließend durch die Türkei bis auf die Insel Lesbos. „Alle unsere Schleuser waren bisher Türken“, sagt sie. „Die Türkei stoppt die Flüchtlinge nicht. Es ist die mazedonische Grenze, an der die Leute scheitern.“

Ähnlich beschreibt es der 37-jährige Rasuk* (Name geändert). Vier Wochen zuvor war er per Schlauchboot vom türkischen Cesme aus zur Insel Chios gefahren. „Wir kamen ungestört durch. Wenn die Türken einmal im Monat ein Boot hoch nehmen, dann tun sie das fürs Fernsehen – nicht mehr und auch nicht weniger“, gibt sich der Syrer überzeugt. Die Abendsonne hat sich auf den mittelalterlichen Festungsbau gelegt. Da der Touristenmagnet, auf der anderen Seite der Straße. Auf der hiesigen, die schon im Häuserschatten liegt, stehen kleine Hütten und Zelte, provisorische Bauten für die auf der Insel Gestrandeten – Syrer, Palästinenser, Kurden, auch Algerier sollen darunter sein. Touristen kommen noch ins Urlaubsparadies. Aber es sind weniger, seit der Flüchtlingsstrom seine medialen Kreise gezogen hat. Rasuk hat andere Sorgen. Wenn er zu sprechen ansetzt, gerät er jedes Mal ins Stottern. Fünf Schleifen braucht die erste Silbe, bis sich der Gedanke Bahn verschafft. „Eine Erinnerung an den IS“, sagt er. Seine Arme sind verziert mit alten babylonischen Schriftzeichen. Zusammen mit anderen Männern sitzt er zwischen den Zelten an einem selbst gezimmerten Tisch aus grobem Palettenholz. „Ich habe für das Regime gearbeitet, war im Medienteam von Assad“, erzählt er. Ein Spott-Video, das er in der Freizeit über die Islamisten produziert hatte, sei ihm zum Verhängnis geworden. „Daesch hat mich geschnappt und gefoltert“, sagt Rasuk. „Wäre ich noch länger geblieben“, er fährt sich mit der Hand an die Kehle. Auch hier auf Chios fühle er sich nicht wirklich sicher. „Als Atheist unter Muslimen.“ Der Mann gegenüber wirkt plötzlich ungehalten. Sein langer, schwarzer Bart verzieht sich grimmig nach oben. Auf den Abfall vom Glauben steht im Islam die Todesstrafe. Doch hier sitzen sie alle in einem Boot, ein wirscher Kommentar bleibt aus. Die Männer erzählen vom Leben auf der Straße, vom Überleben, von Kriminalität, Kindsentführungen und, ja – jeder der vier bestätigt mit einem Nicken – Selbstmorde unter Flüchtlingen, auch das gebe es.

Der Iraner Ali verbringt seine Tage weiter im Park von Thessaloniki. Er sieht die Familien kommen und gehen. Geduldig wartet er auf seine Gelegenheit: zur Grenze zu kommen und sich irgendwie durchzubeißen. In der Zwischenzeit springt er, wenn er gebraucht wird, für eine Hilfsorganisation als Übersetzer ein und verteilt Essensrationen mit. „Wenn ich sehe, dass irgendjemand Trübsal bläst, gehe ich hin und heitere die Leute auf. Es bringt doch nichts, traurig und verzweifelt zu sein, das macht das Leben nur schwer.“ Über die Flüchtlingspolitik hat er ein klares Urteil gefasst: „Deutschland hat im letzten Jahr richtig gehandelt.“ Jetzt seien die anderen gefordert, die Staaten, die nur wenige aufnähmen. „Die Europäer sollten herkommen, sich ansehen, wie wir leben, und sich die Augen waschen“, sagt er.