Ferrán Adrià – Avantgardist der Kochkunst
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bernadette vopeliusWer ist eigentlich Ferrán Adrià? Ein Koch, antwortet er, mit einem Restaurant. Doch nicht irgendeiner: Der Katalane zaubert Unherhörtes auf den Teller.
Aufregend, lustvoll und mit verschiedensten Gefühlsregungen angereichert soll die Reise werden, die am Anfang der Landstrasse nach Cabo de Creus, im Norden Kataloniens, beginnt. An der Stelle, wo die Pyrenäen in die Wellen des Mittelmeers eintauchen, befindet sich das Restaurant „El Bulli“. An seiner Pforte treffen wir auf Ferrán Adrià, ein Genie, ein bisschen verrückt, wunderlich wie Don Quijote, in weiß gekleidet und die Haare zerzaust. Er tritt aus seiner Küche, die zugleich Laboratorium ist, um uns zu begrüßen und in die Geheimnisse des „Adrià-Effekts“ einzuführen.
Neugierde und ein grenzenloses Durcheinander
„Marshmallows aus Parmesan“, „Karamel aus Kürbisöl“, „Auster mit eigener Perle“, „kandierter Fleischsalat mit Seekuh nach kantonesischer Art“… dies sind drei der hundert Rezepte, die er für diese Saison kreiert hat. „El Bulli“ öffnet seine Pforten fünf Monate im Jahr um dreitausend ausgewählte Gäste zu empfangen. Allerdings gehen jährlich etwa achttausend Anfragen aus aller Welt ein! Den Rest des Jahres verbringt Adrià mit „kulinarischer Forschung“ in seiner so genannten „Bulli Experimentierwerkstatt“, mit Reisen, Konferenzen, Kursen und der Zusammenarbeit mit verschiedenen Unternehmen.
Wir setzen uns auf die Terrasse in ein vor der Sonne geschütztes Eck mit Blick auf das Meer und dem Rauschen der Wellen im Ohr. Als ich ihm sage, dass wir von café babel kommen, erzählt er sogleich, dass er sich als Europäer betrachtet, auch wenn die Küche im Grunde keine Grenzen kennt. „Eine andere Sache ist jedoch“, fügt er hinzu, „wem man nahe steht. Spanien unterscheidet sich in diesem Punkt deutlich von den anderen europäischen Ländern aufgrund seiner engen Beziehung zu Lateinamerika. Letzten Endes sind wir nun einmal Latinos.“
„Trotzdem verändert sich die Gastronomie, und der geografische Ort einer bestimmten Küche kann heute hier und morgen woanders sein. Woher kommen die Cannelloni? Meine Mutter würde behaupten, sie sind katalanisch“, sagt er und lächelt. „Die Grenzen werden sich in Zukunft immer mehr verschieben und jeder einzelne erlebt dies stets auf seine eigene Weise. Die Küche löst die Menschen aus ihrer Ortsgebundenheit heraus. Der wichtigste Bezugspunkt meiner Küche ist das, was am nächsten liegt - diese kleine Bucht hier - und dann die ganze Welt.“
Wenn „El Bulli“ schließt, beginnt die Phase der „kulinarischen Forschung“. „Man muss bedenken, dass die Küche in „El Bulli“ auf radikale Art und Weise avantgardistisch ist. Mir ist wichtig, dass die Gäste zufrieden sind, aber vor allem, dass ich selbst zufrieden bin.“ Die Leute kommen zum Essen in dieses Restaurant ohne zu wissen, dass das, was sie auf den Tisch bekommen, die extremsten und außergewöhnlichsten Gerichte sind, die heute auf der ganzen Welt zubereitet werden. Diese Gerichte können je nachdem Befremden, Freude, Lachen oder sogar Angst hervorrufen.
Die Ursprünge liegen in Frankreich
Adrià sieht sich als Erbe der französischen Nouvelle Cuisine. Frankreich gegen Spanien?... „Frankreich gegen den Rest der Welt“, meint er. „In den siebziger Jahren revolutionierte Frankreich eine Domäne, in der es vieles zu verändern gab.“ Heute hat Spanien diese Rolle übernommen, erkennt aber das französische Erbe mit seinem unschätzbaren Wert an. Der Unterschied ist, „dass die Nouvelle Cuisine eine einzige Strömung war, während es heute hunderte davon gibt: minimalistische oder naturalistische Küche, Happenings, Performances, ‚lebendige Küche’… Die wahre Revolution findet hier und heute statt. In Spanien ist es gelungen, das Thema ins Blickfeld zu rücken, auch in den Medien. Diese Art von Revolution weckt Sympathien und Neugierde, verstößt gegen Regeln und bringt Innovatives hervor. Eine Nachwuchsgeneration wird davon mitgerissen und will an dieser Revolution teilhaben aus der am Ende etwas Neues hervorgehen wird. Es wird in Zukunft eine europäische Küche geben, da bin ich mir sicher.“ Er erklärt es uns. Was er meint, ist eine „globale Küche“, die sich vor allem von der asiatischen unterscheidet – ein Zusammenspiel aus dem was unser Erbe ist, aus den kulinarischen Strömungen, die die Wirren dieser Revolution überleben.
Langer Atem
„Das Kochen fordert von einem eine gewisse Selbstlosigkeit und eine Perfektion, die sich in jedem Teller der die Küche verlässt, widerspiegeln muss.“ Für Adrià ist die Kollegialität unter Köchen das Ergebnis der Akzeptanz solcher Schwierigkeiten und einer ähnlichen Auffassung der Gastronomie. „Das Merkwürdige daran ist, dass uns heutzutage sehr viel Aufmerksamkeit und Anerkennung entgegengebracht wird und dass die Medien über uns berichten wollen. Wir Köche sind für die ganze Welt präsent geworden, wir sind sozusagen in die Arena hinab gestiegen, um auf die zahlreichen Fragen zu antworten, um die Menschen hinter unsere Kulissen schauen zu lassen, in unsere Küchen, in unsere Rezepte und in unsere Restaurants… und das ist etwas, was vorher so noch nie geschehen ist.“
Außerdem wurden Adriàs Aktivitäten mit viel Mühe dokumentiert und kommentiert, um die Ergebnisse und Fortschritte seiner Forschung festzuhalten. „Veröffentlichungen sind in zweifacher Hinsicht sinnvoll: zum Einen finanziell gesehen und zum Anderen, damit das Wissen weitergegeben wird.“ Wir sind erstaunt über diese Aussage, und er fährt fort. „Das Restaurant “El Bulli“ ist nicht dazu gedacht, Geld einzubringen. Es ist unsere Art und Weise uns der Außenwelt zu öffnen und unsere Arbeit vorzustellen. Schließlich könnten wir auch Reservierungen versteigern und ich versichere euch, dass das Unmengen an Geld einbringen würden… aber darum geht es nicht. Ein Menu bei uns kostet 150 Euro und wir haben Gäste von jeder Couleur. Das wichtige ist, dass wir mit unserer Arbeit zufrieden sind und dass die Leute das Essen genießen, aber wir wollen uns weder den Reizen des wirtschaftlichen Erfolges noch den Anfragen unserer Gäste beugen. Aus diesem Grund ist die finanzielle Seite um das Restaurant herum so wichtig. Mein Traum ist es, mich in zwei oder drei Jahren langsam aus alldem zurückzuziehen und mich ganz der Forschung und dem Reisen zu widmen.“ Wohin er reisen würde? „Nach China“, antwortet er ohne zu zögern. „Der kulturelle Wandel, den wir heute erleben, ist einzigartig in der Geschichte der Menschheit. Und es wird immer weiter gehen. Die chinesische Küche ist eine Welt für sich. Das Problem mit Europa ist, dass es schon immer sehr auf sich selbst bezogen war. Wenn man jemanden aus der Szene fragt, wer der beste indische oder chinesische Koch sei, hat keiner eine Ahnung. Aber immerhin leben dort zweieinhalb Milliarden Menschen!
Sinfonie der Köche
In Ferrán Adriàs Küche findet man von allem etwas - einen mystischen Ort, das Atelier eines Künstlers, straffe Disziplin - und alles in einem. Dieser Ort ist hochsensibel, genauso wie jedes einzelne Gericht auf seiner ausgezeichneten Karte. Dreißig Köche und eine unglaubliche Organisation sorgen dafür, dass der Motor „El Bulli“ heute Abend am Laufen gehalten wird: „Achtung, heiß!“ Schreie inmitten des wirren Treibens und des ständigen Kommens und Gehens der Anwärter aus aller Welt: Italiener, Japaner, Brasilianer und so weiter. Hier werden die heißen, dort die kalten Speisen zubereitet, woanders wird zerlegt und gebraten… die unterschiedlichsten Düfte ziehen vorbei. Mmmh, Schokolade…!
Kunstwerk? Essen? Emotionen? – Leben, neue Erfahrungen machen, es mit der absolut radikalen Avantgarde aufnehmen - wir nehmen Platz vor einem Gericht, das alle unsere Erwartungen übertrifft. Diesen Zauber muss man mit Leib und Seele erfahren.
Veröffentlicht am 9. Juli 2005 in der Rubrik Brunch mit....
Translated from Ferrán Adriá: la vanguardia culinaria por bandera