Eurostat: Die Zahlenjongleure der EU
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Ann-Marie OrfAm 30. Mai veröffentlicht die EU die Arbeitslosenzahlen der 27 Mitgliedsstaaten. Doch sind die sozioökonomischen Realitäten in den einzelnen Ländern wirklich vergleichbar?
Wirtschaftswachstum, Arbeitslosenzahlen, aktuelle Bilanz ... Wer ist eigentlich für die diesbezüglichen EU-Statistiken verantwortlich? Eurostat, das statistische Amt der Europäischen Union. Auch wenn viele noch nichts von dieser Organisation gehört haben mögen, trägt sie doch wesentlich zur europäischen Integration bei. Hinter den scheinbar so neutralen Zahlen, die Eurostat regelmäßig veröffentlicht, verbergen sich jedoch nicht unerhebliche politische Kabbeleien. Ein Blick hinter die Kulissen auf die Arbeit der europäischen Zahlenjongleure.
Äpfel und Birnen
Eurostat kann mit Fug und Recht als ein europäisches Erfolgsprojekt bezeichnet werden. Das im Jahre 1953 ins Leben gerufene Amt hat sich innerhalb kurzer Zeit als unverzichtbarer „Zahlenlieferant“ etabliert, keine europäische Organisation kommt an den von Eurostat veröffentlichten Ergebnissen vorbei. Die Aufgabe der Zahlenjongleure? Europäische Daten statistisch auszuwerten und Informationen zum Bruttoinlandsprodukt (BIP), zum allgemeinen Wirtschaftswachstum oder zu den Arbeitslosenzahlen zu liefern. Kurz gesagt: Eurostat untersucht den „Gesundheitszustand“ der Wirtschaft und der europäischen Gesellschaft.
Gemäß dem Subsidiaritätsprinzip erfassen die einzelnen Mitgliedsstaaten ihre nationalen Daten und leiten sie zur Zentralisierung an Eurostat weiter. Doch dieser anscheinend so einfache Mechanismus gibt in der Realität immer wieder Anlass zur Debatte, da die benötigten Zahlen in den einzelnen Ländern nicht auf die gleiche Art und Weise ermittelt werden. Um zu verhindern, dass Äpfel mit Birnen verglichen werden, hat Eurostat einige Regeln aufgestellt, an die sich alle Mitgliedsstaaten halten müssen. Und genau diese sorgen immer wieder für Diskussionen.
Jedes Land besteht auf seinen eigenen Definitionen. In Großbritannien beispielsweise wird ein Arbeitsloser als eine Person definiert, die Anspruch auf Arbeitslosenunterstützung erhebt, während die Franzosen unter einem Arbeitslosen eine Person verstehen, die angibt, seit zwei Wochen keiner Arbeit mehr nachgegangen zu sein. Ein Arbeitsloser in Paris ist also noch lange kein Arbeitsloser in London! Um „Äpfel-mit-Birnen-Vergleiche“ zu verhindern, hat Eurostat Normen festgelegt ... mit noch haarsträubenderen Konsequenzen: Legt man diese Normen zugrunde, liegen die von Eurostat ermittelten Arbeitslosenraten um beinahe 1 % unter den Zahlen des nationalen spanischen Arbeitsamts (INEM) oder der französischen Statistikbehörde INSEE. Zauberei?
Unsicherheiten und politische Auseinandersetzungen
Eurostat ist stets um äußerste Präzision bemüht und so werden alte Zahlen häufig revidiert: Das französische Wirtschaftswachstum im Jahre 2003 wurde 3 Jahre später um 0,9 % nach oben korrigiert! Solche Unsicherheiten im Zahlendschungel tragen natürlich nicht unbedingt zu einer soliden Wirtschaftspolitik bei. Und wenn man dann noch bedenkt, dass die Europäische Kommission auf Grundlage dieser Zahlen Plus- und Minuspunkte vergibt, wird auch klar, welch fatale Auswirkungen die verschiedenen Definitionen der Mitgliedsstaaten tatsächlich haben.
Denn hier geht es nicht um Kabbeleien unter Statistikern, sondern handfeste politische Auseinandersetzungen. Der Versuch, eine Norm festzulegen, die man allen Mitgliedsstaaten überstülpen kann, scheitert ganz einfach an den sozialen Realitäten, die sich von Land zu Land unterscheiden. Die Arbeitsmarktsituation in den Niederlanden beispielsweise ist absolut nicht vergleichbar mit der Großbritanniens: In keinem anderen europäischen Land ist der Anteil der Teilzeitjobs an der Gesamtzahl der Beschäftigungsverhältnisse so hoch wie in den Niederlanden, während der britische Arbeitsmarkt in dem Ruf steht, extrem durchlässig zu sein. Und trotzdem muss in beiden Ländern dieselbe Methode zur Berechnung der Arbeitslosenquote angewandt werden.
Verwirrung pur
Eurostat schließt die Augen vor den soziokulturellen Differenzen innerhalb der EU, um den Mythos der Vergleichbarkeit aufrechtzuerhalten. Doch wie kann ausgehend von den so ermittelten Zahlen eine gerechte Sozialpolitik gewährleistet werden? Die zum Teil angewandte Manipulation der Indikatoren ist sicher kein probates Mittel, um der Problematik der Berechnung Herr zu werden. Die Auseinandersetzungen um die Arbeitslosenzahlen - und derzeit verstärkt auch um die Lebenshaltungskosten - beruhen auf dem Trugschluss, dass die Gegebenheiten in der EU überall gleich und die Zahlen der einzelnen Länder daher vergleichbar seien. Um sicherstellen zu können, dass die Gehälter proportional zur Inflationsrate steigen, muss diese Rate jedoch korrekt ermittelt werden. Die verallgemeinernde Berechnungsmethode von Eurostat führt jedoch nicht selten zu Ergebnissen, die die Realität in den einzelnen Ländern nicht widerspiegeln.
Die Unabhängigkeit von Eurostat und den entsprechenden Behörden auf nationaler Ebene hat zur Folge, dass die Möglichkeit der Einflussnahme „von außen“ abnimmt. Andererseits werden diese Organisationen jedoch immer stärker in internationale Normengeflechte eingebunden. Dies wiederum ermöglicht mehr Transparenz. Ein Land kann nicht mehr vortäuschen, dass die Wirtschaftslage rosig ist, indem es seine Zahlen verfälscht. Eine Entscheidung muss her: Transparenz zu diesem Preis oder aber die Anerkennung der Tatsache, dass soziale Gegebenheiten keinen universellen Charakter haben. Entweder oder.
Translated from Eurostat, l’horloger européen