Europas soziale Musterschüler
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Während Kontinentaleuropa unter wachsender Arbeitslosigkeit ächzt und Großbritannien mit dem Problem der "working poor" zu kämpfen hat, können sich die Skandinavier zurücklehnen: Solide Wirtschaft und soziale Sicherheit sind vereinbar.
Vor noch nicht allzu langer Zeit sagten Skeptiker dem von Finanzierungsnöten und ungekannt hoher Arbeitslosigkeit gebeutelten skandinavischen Wohlfahrtsstaat ein baldiges Ende voraus. Ein gutes Jahrzehnt später fallen die Einschätzungen sehr viel wohlmeinender aus, gar vom "Vorbild Skandinavien" ist zuweilen die Rede. Was ist dran am skandinavischen Mythos?
Die drei Welten des Wohlfahrtskapitalismus
In Europa lassen sich drei große Wohlfahrtsmodelle unterscheiden, ein jedes mit einer anderen Auffassung der Aufgabenverteilung zwischen Staat, Markt und Familie.
Das beispielsweise in Großbritannien oder – außerhalb Europas – in den USA und Kanada verbreitete angelsächsische oder liberale Modell setzt ganz auf die Kräfte des Marktes. Hier werden große Bereiche der Gesellschaft, etwa Gesundheit oder Bildung, privat organisiert; soziale Absicherung ist auf den Schutz vor Armut beschränkt. Wohlfahrt ja, aber bitteschön auf allerniedrigstem Niveau, so das Credo, und: keine Chance dem "Sozialschmarotzertum".
Wo der angelsächsische Liberalismus mit Leistungen geizt, ist der konservative Wohlfahrtsstaat auf dem Kontinent schon freigiebiger. In Österreich, Frankreich, Deutschland oder Italien haben sich Sicherungssysteme etabliert, die bei Arbeitslosigkeit und im Alter das zuvor erzielte Erwerbseinkommen annähernd absichern und so den jeweiligen sozialen Status aufrechterhalten. Diese Fokussierung auf Lohnarbeit als „Normalfall“ und das Versicherungsprinzip trägt dazu bei, die sozialen Ungleichheiten auf dem Arbeitsmarkt bei den Sozialleistungen zu reproduzieren.
Und dann ist da schließlich noch das skandinavische Modell. Wohlfahrt – ja bitte, und zwar auf höchstem Niveau. Soziale Rechte sind unabhängig von der Beschäftigungs- oder Familiensituation; alle Klassen und Schichten sind in ein einziges, universelles Versicherungssystem einbezogen. Das Ergebnis kann sich sehen lassen: Schweden, Norwegen und Dänemark stehen in punkto Wirtschafts- und Beschäftigungssituation in Europa und der Welt gut da: höchste Beschäftigungsquoten bei Frauen (ca. 72 % laut OECD Employment Outlook 2005, pdf), niedrige Arbeitslosenquoten (zwischen 4,4 % und 6,4 %), vorbildliche Gleichstellungs- und Bildungspolitik und dabei Schuldenabbau und ein gesunder Haushalt.
Alle für alle
Die üppigen sozialen Sicherungssysteme können sich die nordischen Wohlfahrtsstaaten leisten, weil sie den Steuerzahler kräftig zur Kasse bitten. Hohe Konsumsteuern (25% Mehrwertsteuer in Dänemark und Schweden) und ein duales Einkommenssteuersystem, das international tätige Unternehmen steuerlich entlastet, Arbeitslöhne gerade der Spitzenverdiener dafür aber um so höher besteuert, ermöglichen es den Skandinaviern, ihren Fürsorgestaat zu erhalten und gleichzeitig für Investoren attraktiv zu bleiben. Und die Skandinavier bezahlen ihre hohen Steuern ohne Murren, denn sie wissen es zu schätzen, was sie im Gegenzug dafür erhalten. Eine gut ausgebaute Kinderbetreuungsstruktur etwa, die es Frauen ermöglicht, Nachwuchs zu haben und trotzdem weiterhin berufstätig zu sein. Oder eine öffentliche Gesundheitsversorgung, in deren Rahmen norwegische Rheumakranke auch schon mal für vier Wochen auf die Kanaren geschickt werden. Oder die schwedische Elternzeit, die das Recht einschließt, auf den alten Arbeitsplatz zurückzukehren. Weil auch die Bessergestellten etwas vom staatlichen Sicherungssystem haben, ruht der Konsens für den Wohlfahrtsstaat auf einer soliden gesellschaftlichen Grundlage.
Problemlösung auf "skandinavisch"
Krisen haben die Wohlfahrtsstaaten am nördlichen Rand Europas dennoch durchlaufen. Anfang der Neunziger stieg in Schweden die Arbeitslosenquote innerhalb weniger Jahre von 1,5% (1989) auf 8,2% (1993), Dänemark und Norwegen erging es ähnlich. Ein schwerer Schlag für ein Wohlfahrtsmodell, das zur Aufrechterhaltung der hohen sozialen Standards auf Vollbeschäftigung angewiesen ist. Dass die skandinavischen Wohlfahrtsstaaten die Kurve gekriegt und den Umbau der traditionellen Sicherungs- und Versorgungssysteme letztendlich souverän gemeistert haben, haben sie nicht zuletzt auch der Konsensbereitschaft der Gewerkschaften - mit einem Organisationsgrad von 80% ein ernstzunehmender Faktor im politischen Entscheidungsgefüge – zu verdanken, die Reformen nicht blockiert, sondern mitgestaltet haben.
Sicher, das Wohlfahrtsmodell ist abgespeckt worden in den letzten Jahren. Was die staatlichen Ausgaben für Sozialleistungen betrifft, nehmen die skandinavischen Länder im internationalen Vergleich jedoch noch immer eine Spitzenreiterrolle ein. So schnell lassen die skandinavischen Wohlfahrtsstaaten sich von ihrem Platz als Klassenbeste nicht verdrängen.