Europäische Identität - was zur Hölle ist das?
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„Europa fehlt eine Identität.” Das kann man in jeder x-beliebigen Analyse eines x-beliebigen Intellektuellen lesen. Unser Autor hat mit Leuten in Cafés und auf der Straße philosophiert und gefragt, wie sie das Ganze sehen. Und am Ende einen gemeinsamen Nenner gefunden.
Einmal im Jahr fragt die EU ihre Bürger, ob sie sich eher ihrer Nation oder Europa zugehörig fühlen. Sie fragt so nach der europäischen Identität. Doch was ist das überhaupt, europäisch? Was ist Identität?
Diverse Autoren versuchen gerne mit langen Aufsätzen diese zwei Wörter in viele Worte zu fassen, dann schreiben sie über Demokratie, über gemeinsame Werte, über Geschichte und manchmal über das Christentum. Aber was sagen Europäer selbst dazu, wenn sie nicht nur eine Multiple-Choice-Auswahl von der Statistikbehörde Eurostat vor sich haben? Was sagen sie, wenn man sie fragt, warum sie sich europäisch, oder auch: nicht europäisch, fühlen? Wo besser ist das herauszufinden als in einer Stadt, die von sich behauptet, eine europäische Stadt zu sein.
Es ist ein sonniger Nachmittag in Straßburg, entlang der Ill ankern Haus-Boote, die Bars und Cafés beherbergen, am Flussufer sitzen die Leute in Stühlen, Liegen und Sofas, trinken, rauchen, unterhalten sich. Neben mir eine schwarzhaarige, etwas fülligere Frau mittleren Alters, gegenüber ihre Mutter, kurze weiß-blonde Haare, etwas hager, aber sportlich, ein paar Falten.
Ich taste mich mit einer vorsichtig-einfachen Frage heran: Ist Straßburg eine europäische Stadt? „Ja”, kommt sofort die Antwort. Und warum? „Weil hier so viele Touristen aus allen Ländern unterkommen, überall sind Ausländer”, sagt die Tochter. Das stimmt, Straßburg ist eine Touristenhochburg. Doch wenn es Ausländer sind, wie können es dann Europäer sein?
„Ich verstehe, was du meinst, aber es ist einfach schwer zu beantworten. Was ist überhaupt europäisch?” Ja, genau, was ist das? Ihre Mutter springt ein, sagt, es sind die gemeinsamen Gewohnheiten, die alle Europäer teilen. Und welche sind das? „Gute Frage.” Keine Antwort. Ihre Tochter setzt wieder ein: „Ich habe ein paar Jahre in Kanada gelebt. Da habe ich mich schon sehr als Europäer gefühlt, da ist alles irgendwie anders. Auch wenn ich in Belgien bin, bin ich Europäer. Wenn ich in Frankreich bin, bin ich Französin.”
Andere antworten ähnlich, eine Russin, die nach Straßburg gezogen ist, sagt, in ihrem Heimatland wird sie als Europäerin angesehen, in Straßburg als Russin. Europäisch scheint etwas Unbestimmtes zu sein, etwas, das Menschen erst für sich entdecken, wenn sie ihre Heimat, ihre vertraute Kultur, hinter sich lassen. Offenbar ist Identität immer eine Form der Abgrenzung. Wir und die Anderen.
Fühlt Ihr Euch erst Französisch, und dann Europäisch, oder erst Europäisch und dann Französisch? Beide Damen antworten mit „Französisch zuerst”. Heißt das also, ihr sorgt euch eher um Franzosen, bevor ihr euch um andere Europäer sorgt? Beide antworten - zögerlich - mit „Ja“. Aber in einigen östlichen Mitgliedsstaaten sterben die Menschen vor Hunger und leben in Slums, müsste man sich nicht um die viel mehr kümmern? „Ja, ich weiß, es ist schlecht so zu denken, aber in Frankreich sterben die Menschen auch”, sagt die Tochter. Ihre Mutter setzt fort: „Natürlich müssen wir global denken, und wenn wir das tun, dann müssen wir uns auch um die schwachen Länder in Europa kümmern, wir müssen zusammenhalten, um gegen China und die USA zu bestehen.”
Sie ist nicht die einzige, die so auf diese Frage antwortet.
Erst ich und dann die anderen
Eine hübsche Französin, die gerade ihr Fahrrad aufschließt, signalisiert, dass sie gerade echt los muss, aber als ich sie mit meinen Fragen konfrontiere, bleibt sie stehen und denkt nach. Auch sie sagt am Ende „Ich sorge mich zwar erst um Franzosen, aber wir müssen uns auch um die Anderen kümmern.” Eine Jugendgruppe, einige von ihnen nicht einmal 18, hört ebenfalls interessiert zu und versucht Antworten zu geben. Schließlich: „Unsere Eltern haben uns beigebracht, dass wir auch an andere Menschen in Europa denken müssen.”
Alle Befragten wählten am Ende den Ausdruck „Wir müssen”. Nicht: „Wir sollten”. Europa scheint keine Herzensangelegenheit zu sein, sondern eine Frage des Verstands. Wer an Europa denkt, ist pragmatisch, nüchtern, rational und darauf bedacht, den wirtschaftlichen Vorteil zu sehen. Vielleicht ist der gemeinsame Wert der Aufklärung doch nicht so weit hergeholt.
Wie besser lässt sich diese These überprüfen, als bei einer Diskussion über Europa. Zwölf vor allem junge Erwachsene sind meiner Facebook-Einladung gefolgt, um an einem Freitag um 20 Uhr in der Studenten-Bar Le Chariot über Europa zu diskutieren. Einige arbeiten für Café Babel, andere sind Freunde und Bekannte. Selbst hier, mit Menschen, die sich schon für das Thema interessieren, ähneln sich die Aussagen: Bis auf drei Personen (inklusive mir) sehen sich die meisten zuerst ihrer Nation zugehörig, dann Europa.
Ein Gedanke: Wenn man sich nun zuerst mit seiner Nation identifiziert, und dann erst mit Europa, ist das dann Nationalismus?
Stille.
Diese Frage hatte ich schon einige Stunden zuvor gestellt, als ich im Palais d’Europe - dem Sitz des Europarats - Menschen angesprochen habe, die wichtig aussahen. Ein Abgeordneter aus dem Parlament des Kosovo hatte ohne zu zögern eine Antwort parat: „Es ist nicht nationalistisch, es ist egoistisch. Aber jeder ist das. Jeder kümmert sich erst um sich selbst, dann um andere.” In der Bar Le Chariot gibt es erste Wortmeldungen. Einer sagt: „Identität hat nichts mit Nationalismus zu tun. Nur weil man sich als Franzose begreift, macht einem das nicht zu einem Nationalisten. Erst wenn man andere Nationen ausgrenzt oder als minderwertig ansieht, ist das Nationalismus.“ Nationalismus ist danach etwas Politisches, Identität etwas Kulturelles.
Und keiner der Anwesenden will diese nationale kulturelle Identität mit einer europäischen ersetzen. Schließlich ist es genau diese kulturelle Unterschiedlichkeit, die Europa ausmache. Europäisch zu denken, heißt offenbar, die Vielfalt und Verschiedenheit Europas anzuerkennen, vielleicht sogar stolz auf sie zu sein. Das Motto der EU lautet ja auch: „In Vielfalt vereint.”
Doch in den Gesprächen auf den Straßen hat sich auch ergeben, dass viele Europäer nicht unbedingt zusammenstehen wollen, sie fühlen, dass sie es müssen. Sie pflegen eine eher pragmatische, rationale Beziehung zur europäischen Idee, eine des Kopfes, nicht des Herzens. Sie empfinden keinen Pathos, keinen Patriotismus, keine Liebe.
Ehrlicherweise müsste das Motto daher wohl lauten: trotz Vielfalt vereint.