Europa und die Aus-Grenzung des Anderen
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Europa sucht seine Grenzen: in der Identitätsdebatte, in der Erweiterungsfrage, im Immigrationsdiskurs. Grenzen bedeuten Sicherheit – aber auch Repression. Nach außen und nach innen.
In der Moderne hat sich in Europa ein von Grenzen durchzogenes Staatensystem herausgebildet. Die europäische Erfindung territorialer, fest umgrenzter Staaten hat sich, gemeinsam mit dem Kapitalismus weltweit als das Normalmodell politischer Organisation ausgebreitet. Politische Identitäten an die Zugehörigkeit zu einem Volk und an ein Staatsterritorium zu knüpfen, ist uns so selbstverständlich geworden, dass uns die Existenz geographisch-politischer Grenzen und die staatsbürgerliche Identifizierung von Individuen als ganz „natürlich“ vorkommen.
Neuerdings wird die vormalige Festigkeit und Verbindlichkeit nationalstaatlicher Grenzen durch transnationale Ströme von Menschen, Informationen, Waren und Geld zwar deutlich relativiert. Zugleich sind jedoch, gerade in Europa, Tendenzen der Neuschaffung und Verfestigung von Grenzen zu beobachten. Während die Binnengrenzen der EU an Bedeutung verlieren, werden ihre Außengrenzen diskursiv und materiell Schritt für Schritt konsolidiert.
Bezeichnend ist die innerhalb der Eliten geführte Debatte um die Europäische Identität. Die Konstruktion von Identität geht immer einher mit der diskursiven Konstruktion des „Anderen“ (Nichteuropäischen), von dem sich die Identität abgrenzt – und vor dem sie sich schützen muss. Das Andere Europas ist vielfältig bestimmbar: als das Bedrohlich-Muslimische (Türkei, „Terroristen“), das Bedrohlich-Chaotische (Balkan, Russland), das Bedrohlich-Arme (Afrika: Flüchtlingsboote an der Mittelmeerküste), das Bedrohlich-Unilaterale (USA, respektive Bush), das Bedrohlich-Fremde (Durchdringung der europäischen Leit-Kultur im Inneren durch fremde Lebensweisen). All dieses Bedrohlich-Differente muss entweder assimiliert/integriert oder draußen gehalten werden. Die diskursiv produzierten Grenzen Europas sind die unerlässliche Grundlage dafür, Europa auch materiell zur Festung ausbauen zu können, damit durch gesicherte Außengrenzen Europa und die fragile Europäische Identität geschützt werden können.
Ausgrenzung und Anpassung
Grenzen haben die Funktion, nach innen Schutz zu gewährleisten – ihre Auswirkungen sind jedoch vor allem repressiv. Grenzen dienen der Legitimierung und Sicherung von Privilegien: in ihrer scheinbaren Selbstverständlichkeit suggerieren Grenzen einen legitimen Anspruch der Unionsbürger auf das Unionsterritorium und die auf diesem Territorium produzierten Werte. Dass die „Anderen“ denselben Anspruch auf „europäisches“ Gut haben könnten, wie „wir Europäer“, dass die „Anderen“ dasselbe Recht haben könnten, sich auf „europäischem“ Boden frei zu bewegen und niederzulassen, wie „wir Europäer“, dass den „Anderen“ demokratische Mitentscheidungsrechte in „Europa“ zukommen sollten – solche Überlegungen sind weltfremd in einer Wirklichkeit, in der Grenzen als quasi-natürliche Normen anerkannt werden.
Doch damit die konstruierte homogene Identität im Inneren reingehalten werden kann, müssen Differenzen eingeebnet werden. Das „Nichteuropäische“ innerhalb Europas muss assimiliert, europäisiert, normalisiert werden. Akzeptabel sind nur diejenigen „Fremden“ „unter uns“, die sich der europäischen Leitkultur anpassen. Grenzen können nur ihre Funktion wahren, wenn die Fiktion aufrechterhalten wird, dass sie fein säuberlich das Identische drinnen vom Anderen draußen trennen.
Europa postmodern
Dabei bietet gerade die Europäische Integration die Möglichkeit, das modernistisch-territoriale, von starren Grenzen geprägte Denken zu überwinden. In der europäischen Politik vermischen und überlappen sich verschiedene Ebenen und Loyalitätsansprüche. Die „Grenzen Europas“ bleiben angesichts der fortwährenden Erweiterungsbewegung weiterhin vorläufige, verschiebbare, wenig fixierte Markierungen – und mit ihnen bleibt die europäische Identität in Bewegung. Das modernistische Denken drängt hier auf Entscheidungen: „Wo sind die Grenzen Europas? Was macht die europäische Identität aus? Wer gehört dazu und wer nicht?“ Der Versuchung, diese Fragen ein für alle mal entscheiden zu wollen, um endlich wieder Klarheit und Ordnung zu haben, gilt es zu widerstehen. Gerade die Offenheit, Unentschiedenheit und Unentscheidbarkeit, das Überlappende, Multiple, Nebulöse, Fluide machen Europa zu einem spannenden postmodernen Projekt. In einem postmodernen Europa steckt viel Potenzial, neue Denk- und Lebensmöglichkeiten zu erschließen und demokratische Formen zu entwickeln, welche die in der modernen Form der Staatlichkeit angelegten totalitären und repressiven Züge vermeiden könnten.