Europa spricht Ch'ti?
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Eine französische Komödie bricht alle Kinorekorde: nur noch eine Million Zuschauer mehr - und Bienvenue chez les Ch’tis ist der erfolgreichste Film Frankreichs seit 1945. Lässt sich das Erfolgsrezept nach Europa exportieren?
Die französische Presse ist begeistert: endlich mal ein wirklich uriger Film, der an Kinoerfolge des Hexagons wie Le Père Noel est une ordure (1982) oder Les Bronzés font du ski (1979) erinnert. Und noch dazu über die ehemalige Kohleabbauregion Nord-Pas de Calais, die sonst nur aufgrund des Eurotunnels in der europäischen Presselandschaft Erwähnung findet. Sämtliche Zeitungen und Fernsehsehsendungen widmen Bienvenue chez les Ch‘tis (Willkommen bei den Ch’tis) noch Wochen nach dem französischen Kinostart am 27. Februar ausgedehnte Artikel und Features. Nun wird darüber spekuliert, das Phänomen exportfähig zu machen, den nordfranzösischen 'Ch’ti Dialekt' durch Sächsisch, Norditalienisch und Asturisch zu ersetzten, um den europäischen Markt zu erobern.
Kann die Titanic zweimal sinken?
Bienvenue chez les Ch’tis ist in Frankreich in nur kurzer Zeit zu einem der erfolgreichsten Filme seit 1945 geworden. Fast 20 Millionen Menschen haben die Regionalkomödie über den unbeliebten französischen Norden mittlerweile gesehen. Damit hat sie den Film La grande Vadrouille (mit Louis de Funès, 17 Millionen 1966) von seinem Rekordplatz im französischen Ranking verstoßen. Bis zum Sinken der Titanic, dem bisher meistgesehenen Film in Frankreich, fehlt noch eine knappe Million.
Bis zum Sinken der Titanic, dem bisher meistgesehenen Film in Frankreich, fehlt noch eine knappe Million.
Das Außenseiterprojekt mit einem geringen Budget von 11 Millionen - die letzte Asterix-Verfilmung kostete 100 Mio. Euro - entstammt der Feder des Humoristen und Lokalpatrioten Dany Boon, der eine der Hauptrollen spielt und selbst Regie führte.
Kad Merad, in der Rolle des Postdirektors aus der südfranzösischen Provinz, versucht mit allen Mitteln an die Côte d’Azur versetzt zu werden, den Himmel auf Erden. Aber er soll in die Hölle zu den "Wilden" nach Bergues (ausgesprochen 'Baerk'), ein kleines Kaff in der Region Nord-Pas de Calais, wo man den aufdringlich-sympathischen Dialekt chtimi spricht. Ein Alptraum für den im Süden verwurzelten Beamten. Norden und Süden - zwei verschiedene Hemisphären voller Vorurteile treffen aufeinander - ein wahrhaftiger Kulturschock. Doch "Im Norden weint man zweimal, bei der Ankunft und bei der Abreise"…
Ein Ch‘ti auf Rügen
Seinen Erfolgskurs soll Willkommen bei den Ch’tis nun auch in Europa fortsetzen. Die Meinungen sind gespalten. Kann Sächsisch oder Norditalienisch mit der ausgedehnten Mimik, die das 'Ch’ti sprechen' verlangt übereinstimmen? Kann man Bergues so einfach als Sachsendorf ausgeben? Warum nicht - der französische Komiker Boon ist im Ausland nicht so bekannt, als dass man ihn mit einer Nationalität, einer bestimmten Stimme oder mit einem Dialekt identifizieren würde. Die nordfranzösische Backsteinarchitektur kann man auch in anderen Ländern finden, die Post ist in jedem Land eine nationale Institution (wenn auch nicht immer gelb) und regionale Unterschiede sind beliebter als je zuvor. Auch in Italien, Spanien oder Deutschland kennt man regionale Konflikte. Zwischen Bayern und Sachsen, Andalusien und Katalonien, der italienischen Lombardei und Kampanien liegen Welten.
Aber worin besteht das Erfolgsrezept dieser cinematographischen Rückkehr zu Traditionswerten und ländlichen Dialekten im Zeitalter der europäischen Integration? Dass die Globalisierung mit einer zunehmenden Regionalisierung einhergeht, ist schon lange Fakt. Umso schneller man via Internet um die Welt reisen, überall einkaufen und investieren kann, desto mehr suchen die Menschen einen Halt in ihrer Umgebung, Sprache und Identität.
Könnte Europa schneller zusammenwachsen ohne diese kleinen Unterschiede? Könnten wir nicht europäischer denken? Die EU wählte das Motto: "Vereint in der Vielfalt": jedes Land hat eine reiche Vielfalt vorzuweisen, die es zu bewahren gilt, und die - dank europäischer Subventionen - heute stärker ist, als je zuvor. Sich als europäischer Bayer oder bretonischer Europäer zu fühlen ist nicht unbedingt paradox, sondern vielleicht die einzige Möglichkeit regionale und europäische Integration zu vereinen. Dennoch wirken alteingesessene Vorurteile über Nachbarn und Landsleute, die immer wieder hervorgeholt werden, ermüdend und sind nicht totzukriegen.
Wenn man nun über den intellektuellen Gehalt von Bienvenue chez les Ch'tis verschiedener Meinung sein kann, letztendlich könnte er mehr Verständnis und Neugier für die regionalen Eigenheiten erwecken. Und damit bleibt die letzte Asterix-Verfilmung, die doch eine wahrhaftig europäische Vorzeigeproduktion ist, um einiges sinnloser.
Deutscher Filmstart voraussichtlich im Herbst 2008.