Europa – in Protest vereint?
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2011 - es ist das Jahr des Protestes, nicht nur in der arabischen Welt, sondern auch in Europa. Wohin das Auge blickt: scheinbar überall stößt es auf wütende Rentner, aufgebrachte Studenten, streikende Beamte und – nackte Belgier, doch dazu später.
In Europa scheint momentan so Vieles im Argen zu sein, dass man meinen könnte, der Kontinent ersticke förmlich in Problemen. Tatsächlich ist im Zuge der europäischen Schuldenkrise Bewegung in die sonst so müden Knochen vieler wohlgenährter Europäer gekommen. Das jüngste Beispiel sind Portugal und vor allem Spanien, wo erst kürzlich junge Erwachsene gegen schmerzliche Sparmaßnahmen und mangelnde Zukunftsperspektiven demonstrierten.
Der sachkundige Europäer reibt sich verwundert die Augen: „Wird nicht permanent irgendwo gegen Sparmaßnahmen protestiert?“ Ja richtig, auch in Prag gingen damals Zehntausende gegen die Sparpolitik der Regierung auf die Straße. Davor war es bereits in Frankreich, Irland, Portugal, Rumänien und nicht zuletzt in Griechenland zu ähnlichen Ereignissen gekommen. „Tja, selbst Schuld! Wer nicht wirtschaften kann, hat eben Pech!“, ist man geneigt zu rufen, appelliert dann aber an den eigenen europäischen Geist und gelangt schließlich zur nächsten Frage: „Warum sprechen die sich nicht wenigstens untereinander ab und synchronisieren ihre Bemühungen, wenn doch sowieso alle das gleiche wollen?“ Nein falsch, was herauskommt ist eben keine Solidarität unter den leidtragenden Bevölkerungen.
Gefahr: „die da“-Populismus
Dabei könnte es so einfach sein. Denn in dem gespenstisch leeren Raum der europäischen Öffentlichkeit, in den sich lediglich einige Idealisten und Träumer verirrt zu haben scheinen, geistern Forderungen nach dem Erhalt des europäischen Sozialstaats, nach einer handlungsfähigen Bankenaufsicht oder nach Steuern auf Finanztransaktionen herum. Es spukt förmlich vor Ideen, die zu Trägern gemeinsamer Botschaften werden könnten, doch möchte sich ihrer niemand annehmen. Was sich aber in den Köpfen vieler Protestler eingenistet hat, ist das Gespenst des Populismus.
Diese Spukgestalt besitzt drei Köpfe, von denen der eine nach oben, der andere nach unten und der letzte zur Seite schaut – je nachdem, ob nun die verlotterte politische Klasse, gesellschaftliche Minderheiten oder die egoistischen Nachbarländer zur Zielscheibe des Volkszorns werden. In Spanien ist es aktuell die politische und wirtschaftliche Elite des Landes, in Griechenland ebenso und dazu noch die Minorität der Flüchtlinge, die erst vor einigen Wochen fremdenfeindlichen Ausschreitungen in Athen zum Opfer fiel. Fast überall jedoch sind es die europäischen Nachbarn, denen der Schwarze Peter in die Schuhe geschoben wird und stets sind es „die da“ - vor allem „die da oben“ und „die da weit weg in Berlin oder Brüssel“. Exklusion ist zwar auf der einen Seite ein normaler und auch notwendiger politischer Vorgang, doch auf der anderen Seite ist dieser „die da“-Populismus, der aktuell in Europa sein Unwesen treibt, eine ernsthafte Gefahr.
Kein Wunder, dass da das Verständnis und die Geduld der großzügigen Zahlerländer immer mehr schwindet, möchte man meinen. „Verkauft doch eure Inseln, ihr Pleite-Griechen … und die Akropolis gleich mit!“. „Ja!“, „Genau so!!“, „Weg mit dem Euro!!!“ ist da in den Kommentaren zu einschlägigen Artikeln zu lesen; „Wir waren bisher zu weich gegenüber Europa.“ wettern die 'Wahren Finnen' und „Für uns die Arbeit, für sie Souvlaki. Wir schuften, sie streben nach Ouzo“, skandiert der Chef der rechtspopulistischen Partei der Freiheit, Geert Wilders, in den Niederlanden. Der (Rechts-) Populismus ist auch im reichen Norden Europas immer häufiger anzutreffen und unterfüttert dort fleißig das Protestpotenzial, welches sich jedoch bisher nur in der wachsenden Anzahl von Nicht-Wählern manifestiert.
Die Stimmung auf den Straßen Europas ist aufgeheizt – würde sie allerdings ihren Schmelzpunkt erreichen, bestünde die Gefahr, dass sie sich über Grenzen hinweg verbindet und auf diese Weise in ein politisches Programm gegossen werden könnte, das überaus schädliche Wirkungen entfalten würde. Glücklicherweise gehen die Europäer auch aus Gründen auf die Straße, die voll und ganz mit europäischen Werten in Einklang stehen. Beispielsweise die Italiener – oder besser gesagt, die italienischen Frauen – die für ein besseres Frauenbild und mehr Chancengleichheit zu zehntausenden auf die Straße gingen.
„Ora basta!“ hieß es in Rom, „Shame!“ rief man in Brüssel, allerdings nicht weil überall im Land bis auf die Unterhosen entblößte Demonstranten die „Frittenrevolution“ ausriefen, sondern weil in Belgien seit Monaten gegen den politischen Stillstand protestiert wird – schließlich ist das Land nun schon ein knappes Jahr ohne eine handlungsfähige Regierung.
Zudem kam es dieses Jahr nicht nur in Spanien, sondern auch in den Niederlanden und England zu erneuten Studentenprotesten gegen sozial unverträgliche Studiengebühren. In Deutschland mobilisieren seit der Reaktorkatastrophe in Fukushima immer mehr Atomgegner gegen die Energiepolitik der Regierung, in Schweden kam es im Januar zu Protesten gegen die harte Asylgesetzgebung des Landes und damit gegen die Abschiebung einer Gruppe Iraker. Ja selbst im idyllischen und weltfernen Inselstaat Zypern gingen im von der Türkei kontrollierten Nordteil des Landes mehrere zehntausend Menschen gegen Haushaltskürzungen und für mehr Selbstbestimmung auf die Straßen – und das bei einer Einwohnerzahl von gerade einmal einer Million Menschen.
Subsumiert man diese Inhalte, kommt man auf ein Programm, das effiziente Regierungsarbeit, gleichen Zugang zu Bildung, Sozialverträglichkeit, Gleichheit von Mann und Frau, Umweltschutz, Solidarität mit Minderheiten und vor allem Selbstbestimmung vertritt. Allerdings brennt man nun förmlich darauf die wichtigste Frage zu stellen: „Wäre ein solches Programm aktuell in Europa mehrheitsfähig?“
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