Europa im Elfenbeinturm
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Vor vier Jahren hat Joschka Fischer „als Privatmann“ für eine europäische Föderation plädiert, doch die öffentliche Debatte über Europas Zukunft bleibt verhalten. Eine Intellektuelleninitiative könnte die Diskussion neu beleben.
"Der Tag wird kommen, an dem du, Frankreich, du Russland, du, England und du, Deutschland, all ihr Nationen dieses Erdteils, zu einer höheren Einheit verschmelzen werdet, ohne eure verschiedenen Vorzüge und eure rumreiche Einzigartigkeit einzubüßen. Ihr werdet eine europäische Bruderschaft bilden."
So beschrieb der große französische Schriftsteller Victor Hugo 1850 die Zukunft Europas. Manch ein europäischer Politiker wünscht sich heute, er könnte die Vision eines föderalen Europa so poetisch unter das Volk bringen, doch es gelingt ihm nicht einmal in Beamtensprache. Geschlagene vier Jahre ist es nun her, dass Joschka Fischer, hier nicht in der „bisweilen beengenden Rolle“ des deutschen Außenministers, sondern explizit als europäischer Intellektueller seine viel beachtete Humboldt-Rede über die Finalität Europas hielt. Was ist seitdem geschehen? Wo steht die Debatte um den Föderalismus Europas nach vorläufigen Scheitern des Verfassungskonvents?
In der Tat begegnet uns in den Feuilletons der großen europäischen Tageszeitungen zum Thema Föderalismus größtenteils desinteressiertes Schweigen. Leitartikler und Intellektuelle scheinen mit der fortwährenden Spaltung Europas durch den Irak-Krieg, der Osterweiterung, und nicht zuletzt mit der neuen Terrorbedrohung vollends ausgelastet. Die grundsätzlichere Diskussion, wohin die Integration Europas führen wird oder führen sollte, findet vorwiegend in den begrenzten Zirkeln des universitären Betriebs statt.
Die Föderalismusdebatte verstaubt im universitären Betrieb
Allen Rückschlägen zum Trotz sieht der schweizerische Politologe Dusan Sidjanski den Beginn einer neuen Ära für den europäischen Föderalismus gekommen, denn heute würden die Staaten erkennen, dass „der Föderalismus die einzige Form gesellschaftlicher und politischer Organisation ist, die die Wahrung regionaler und nationaler Identitäten ermöglicht.“ Seine Vision eines föderalen Europas ist Vorbild für die Föderation, die Fischer in seiner Rede vorschlug: Ein Übergang vom Staatenbund der Union, wie er heute existiert, hin zu einer Europäischen Föderation, wie sie Robert Schuman und Spinelli bereits vor 50 Jahren forderten. Das heißt nichts Geringeres als ein europäisches Parlament und eine ebensolche Regierung, mit tatsächlicher gesetzgebender und exekutiver Kompetenz. Allerdings weist Fischer darauf hin, dass „die bisherige Vorstellung eines europäischen Bundesstaates, der als neuer Souverän die alten Nationalstaaten und ihre Demokratien ablöst, sich als ein synthetischen Konstrukt jenseits der gewachsenen europäischen Realitäten erweist.“ Es gelte vielmehr, die „Kernsouveränitäten und nur das unbedingt notwendig europäisch zu regelnde der Föderation zu übertragen, der Rest aber bliebe nationalstaatliche Regelungskompetenz.“
Diese Vorstellung nähert sich dem Modell des schweizerischen Schriftstellers und Essayisten Denis de Rougemont, von einem Europa der Regionen, den Unites States of Europe, dessen „goldene Regel“ es ist, den nationalen und regionalen Identitäten einer Föderation genügend Mitgestaltungsraum zu lassen. Denn: „Die europäische Kultur ist die Basis für eine europäische Föderation.“ Dieser bestechenden Aussage stimmt in der Rückschau sogar der neofunktionalistische Mitbegründer der Montanunion Jean Monnet zu: „Wenn wir von vorne anfangen könnten, würde ich mit der Kultur anfangen.“
Alles gut durchdacht, glänzend analysiert und wortgewandt niedergeschrieben. Nur leider vergisst Fischer, der schon als Galionsfigur der Föderalisten gesehen wurde, in der Rolle des Außenministers wieder den föderalistischen Intellektuellen in ihm. So verstaubt die Debatte seit der Niederlage der neuen Verfassung im Elfenbeinturm der Politik- und Europawissenschaft. Dieser unserer europäischen Wissenschaftselite liegt augenblicklich scheinbar wenig daran, dem Thema Föderalismus in Europa eine breitere Öffentlichkeit zu verschaffen oder es gar auf die politische Agenda zu bringen. Brauchen die europäischen Föderalisten einen Anstoß von ihrem föderalen Vorbild Amerika, wie andere Intellektuelle, die sich nicht als „alte Europäer“ bezeichnen lassen wollten?
Die intellektuellen Alteuropäer
Enthusiastisch nannten es die Feuilletons die Geburtsstunde einer europäischen Öffentlichkeit. Mobilisiert von Jürgen Habermas hatten letzten Sommer sieben Intellektuelle in einem halben Dutzend europäischer Tageszeitungen zum aktuellen Stand der Dinge auf dem Kontinent Stellung genommen. Habermas selbst unter Mitunterzeichnung seines langjährigen philosophischen Kontrahenten Jacques Derrida, die Schriftsteller Adolf Muschg und Umberto Eco und die Philosophen Gianni Vattimo, Fernando Savater und Richard Rorty.
Die Inszenierung war spektakulär, heiß diskutiert auch die Aussage: Laut Habermas’ Gegenvorschlag zum „Brief der Acht“ dürfe es im Rahmen der künftigen europäischen Verfassung keinen Separatismus mehr geben, denn Europas Rolle bestehe darin, „den hegemonialen Unilateralismus der Vereinigten Staaten auszubalancieren.“ Nur ein „Kerneuropa“, die verstärkte Zusammenarbeit einer integrationswilligen Staaten-Avantgarde, könne dies mithilfe einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik erreichen.
So sehr diese Ideen auch kritisiert wurden, mit der Debatte über Europa führte der öffentliche Intellektuelle Habermas zugleich vor, wie eine europäische Debatte funktionieren kann. Wenn die Föderalisten unter den Intellektuellen tatsächlich an der Realisierung ihrer Ideale festhalten wollen, sollten sie eine ähnliche Initiative wagen. Sonst wird man ihnen vorwerfen, was Habermas in seinem Artikel selbstkritisch bemerkte: „Wenn das Thema bisher nicht einmal auf die Agenda gelangt ist, haben wir Intellektuelle versagt.“