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Europa Flügel verleihen

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Katha Kloss

Kultur

Es sollte ein einzigartiges Opernprojekt in Europa sein, das in fünf europäischen Städten gleichzeitig stattfindet. Doch während der Aufführung von "St. Kilda - Insel der Vogelmenschen" am 22. Juni im französischen Valenciennes machte sich Europa rar.

Vogelgezwitscher und ungewohntes Sprachgewirr im Opernsaal. Eine in kühle Grau- und Blautöne getauchte Bühne stellt die schroffen Felsen einer fast vergessenen Insel im hohen Norden Europas dar. Rechts und links von der Bühne laufen auf großen Leinwänden Bilder "live aus St. Kilda", die der französische Journalist Gilles Combet simultan aufzeichnet. Auf den zentralen, transparenten Vorhängen thronen die 6 Namen der Orte, die an diesem Abend durch Musik, Gesang und Videoprojektion verbunden werden sollen: St. Kilda und Stornoway (Schottland), Valenciennes (Frankreich), Hallstadt (Österreich), Mons (Belgien) und Düsseldorf (Deutschland) – eine "allgegenwärtige" Oper, so der Plan von Lew Bogdan, der das Werk geschrieben und konzipiert hat.

Als die St. Kildaner im 18. Jahrhundert von ihrer Insel auf das schottische Festland evakuiert wurden, sprachen sie im Chor. Als Einzelgänger konnte man auf der Steilklippen-Insel der Hebriden, die fast zweimal so hoch misst wie der Eiffelturm, nicht überleben. Allein die Gemeinschaft ermöglichte den Überlebenskünstlern das Leben am Limit der Felswände, an denen sie sich - den Vögeln gleich - mit Seilen hinunterließen, um die Eier aus den Nestern der Seevögel zu stehlen. St. Kilda, eine Europa-Utopie?

Geschichte vom europäischen "Ende der Welt"

Diese Kulisse - heute übrigens Unesco-Weltkulturerbe - wählt Lew Bogdan, um die europäische Fragestellung in das Zentrum seiner Arbeit zu rücken. "St. Kilda gehört zu Europa, auch wenn es sich an dessen äußersten Grenzen befindet", so der Regisseur, der selbst Europäer mit Leib und Seele ist und mehrere Jahre in Deutschland als Intendant tätig war. Vor nunmehr 5 Jahren hatte Bogdan einen Artikel der britischen Journalistin Jay Griffiths vom Observer in der französischen Wochenzeitung Courrier International entdeckt: Die Geschichte eines "schottischen Krümels" im Nordatlantik, der durch die Ölindustrie bedroht wird.

Rasant entstand aus diesem Artikel ein Traum. Der Regisseur hatte die Vision "diese wunderbare Geschichte der St. Kildaner Vogelmenschen, der 'Birdmen', einem möglichst großen europäischen Publikum näher zu bringen". Europa, repräsentiert durch die ausgewählten Aufführungsorte, die allesamt Teil der ehemaligen Keltenroute sind, "kann von dieser Inselkultur viel lernen. Wir werden uns in St. Kilda über die Zerbrechlichkeit menschlicher Zivilisationen bewusst, die so schnell und einfach verschwinden können", erklärt Bogdan. Auch sein deutscher Kollege Frank Schulz, der für das Projekt in Düsseldorf verantwortlich ist, sieht in "St. Kilda" die exemplarische Geschichte des Bleibens und Verlassens: "Laut Klimawandel müssen sich vielleicht in 50 Jahren auch Deutsche diese Frage stellen", merkt er in Bezug auf die Städte Hamburg und Bremen an.

Die Vögelflüsterer

"Ein einzelner Kildaner ist nicht vorstellbar, nur Einzelne als Teil der Gruppe", so Frank Schulz. Der deutsche Regisseur hat den Chor im Düsseldorfer Medienhafen zentral platziert, die Gemeinschaft der Inselbewohner solle im Mittelpunkt der Aufführung stehen. Im "Le Phénix", dem neu aus dem Boden gestampften Staatstheater in Valenciennes, rückt die russische Regisseurin Tatiana Stepantchenko den Kampf ums nackte Überleben, aber auch die Liebe zu den Vögeln in das Zentrum ihrer Bühnendarstellung: das Ganze über den Vertikaltanz, eine Mischung aus Bungeejumping, Hochseilklettern und modernem Tanz.

Zu den englischen Gesängen des Chores und den Gänsehaut verursachenden gälischen Liedern der Schottin Anna Murray, schweben die Vertikaltänzer der Pariser Gruppe Retouramont in atemberaubender Leichtigkeit, zu Zeiten jedoch auch in rapider Kampfeslust durch die Tiefen des Bühnenraumes. Vier Inselbewohner erzählen zudem die Geschichte von St. Kilda vor dem Hintergrund von Videoaufzeichnungen historischer Vergangenheit und unbezähmbarer Naturwelten. "Kein Naturalismus, sondern eine Art riesige impressionistische Freske der 'Vogelmenschen'", beschreibt Lew Bogdan die französische Inszenierung. Das Migrationsschicksal der Inselbewohner bleibt Leitmotiv bis zum Ende. Die Bewohner und Vögel, der Chor und schlussendlich auch das 5 Mann starke Orchester lassen eine dunkle, menschenleere Bühne zurück.

Europa: die große Abwesende

Trotz eines durchaus gelungenen Spektakels und einem fast ausverkauften Opernsaal, blieb Europa an diesem Abend die große Abwesende. Die angekündigte poetische "Allgegenwärtigkeit" über Satelliten und Hochgeschwindigkeitsübertragung, beschränkte sich auf einige Live-Bilder von der schottischen Insel. Interaktionen mit den anderen vier Aufführungsorten blieben aus. Europa konnte man an diesem Opernabend allenfalls erahnen.

Die Europäische Kommission hat Bogdans Opernprojekt jedoch als überaus wichtigen Schritt im Rahmen des europäischen Kulturerhalts erachtet und es mit mehr als 800000 Euro (Programm "Kultur 2000") bezuschusst, was in Schottland auf herbe Kritik stieß. Dort war man der Meinung, dass die Gelder besser direkt vor Ort, in den Erhalt der gälischen Sprache investiert werden sollen. Bogdan kann dieser Kritik nur mit Verachtung begegnen: "Das sind Dummheiten, unüberlegte Kommentare von Erbsenzählern und Mittelmäßigen. Es sind immer die Nichtsnutze, die den Mund am weitesten aufreißen. Niemand hat ihnen untersagt, der Europäischen Kommission ein Projekt vorzulegen, oder anderweitig Fördergelder zu beschaffen. Aber da musste erst ein Franzose kommen und sich des Themas annehmen, damit ganz Europa heute von dieser Sprache [dem Gälischen] und Kultur spricht."

Bildrechte: "Le Phénix" Scène Nationale de Valenciennes und stkilda.eu

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