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Europa einig Call-Center Land

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Default profile picture laura wilfinger

Gesellschaft

Mobilität in Europa heißt nicht nur Erasmus und Billigflüge, sondern auch: wenig Arbeit und das zu miserablen Bedingungen. Vor allem, wenn man die Landessprache nicht spricht. Erfahrungen aus Paris.

Ende September, in Paris. Ich bin auf Jobsuche und melde mich bei einem Call-Center, in dem auch Freunde von mir arbeiten. Sie befragen Kunden, die ein Auto gekauft haben, und fragen sie, ob sie zufrieden sind. Warum nicht? Das Ganze geht auf Italienisch, dürfte also kein Problem sein. Ich rufe an und sie verweisen mich an ein Mädchen, das Italienisch spricht, mit einem leichten französischen Akzent. Sie notiert meinen Namen und bittet mich, ihr einen Lebenslauf und ein Motivationsschreiben zu schicken.

Am nächsten Tag fahre ich hinaus in die Vorstadt: An Einfamilienhäusern vorbei und durch enge Straßen gelange ich zu einer Art Lagerhalle - die Firma Venus*. Mehr oder weniger junge Leute aller Nationalitäten begegnen mir hier. Es gefällt mir, die vielen verschiedenen Gesichter zu sehen und die unterschiedlichen Akzente zu hören.

Die Anatomie eines Call-Center-Angestellten (Foto: nina_theevilone/flickr)

Die Armut der E(uro)-Generation

Als ich eintrete, sehe ich schon eine Warteschlange. Ich frage nach und stelle fest, dass sich hier das vereinigte Europa versammelt hat. Erasmusstudenten, aber auch 'normale' Einwanderer, die hier Arbeit und ein besseres Leben suchen, sogar Studenten der Sorbonne. Sie sind das andere Gesicht der E(uro)-Generation: Zuerst muss das Geld für die Miete reichen, ins Internet kommen sie höchstens mal in einem Internetcafé und der Samstag ist für sie nur ein weiterer Arbeitstag - wie übrigens auch der Sonntag, wenn die Stromrechnung mal wieder zu hoch war. Von dieser Generation gibt es in den Zeitungen keine Bilder, denn sie existiert nicht.

Ciro* ist 25 und arbeitet seit einigen Monaten für Venus*. Er ist Erasmusstudent und will in Frankreich bleiben, um seinen Master zu machen. Als Wirtschaftsingenieur interessiert er sich für Logistik und Lagerung. Ich frage ihn, was er von der Arbeit im Call-Center hält: "Sie ist ideal für Studenten, weil du deine Arbeitszeiten jede Woche neu einteilen kannst. Aber lernen kann man dabei natürlich nichts. Und schlecht bezahlt ist sie auch." Ciro arbeitet bis zu fünfundzwanzig Stunden pro Woche, je nach Bedarf der Firma. Das Verhältnis zu den Vorgesetzten sieht er kritisch: "Es gibt keinen Dialog. Du wirst zwar nicht gleich entlassen, wenn du einen Fehler machst, aber erklärt bekommst du auch nichts. Das einzige Ziel ist, so viele Interviews wie möglich zu machen."

Anne kommt aus Deutschland. Sie hat Fremdsprachen studiert. Ich frage sie, wie lange sie bei Venus* bleiben will: "So kurz wie möglich. Ich brauche mehr Sicherheiten." Was heißt das? "Ich habe keine Lust, mir jede Woche wieder Gedanken über das Geld zu machen. Manchmal werfen sie deine Planung einfach um oder es gibt einfach nichts zu tun. Dann arbeitest du statt sechs nur zwei Tage. Und wie soll ich dann die Miete zahlen?" Anne arbeitet im Schnitt zwischen dreißig und vierzig Stunden. Eigentlich würde sie lieber etwas im kulturellen Sektor finden: "Wenn du das hier als full-time-Job machst, wirst du verrückt."

Weniger als acht Euro pro Stunde

Eben noch unter einem Plastikvordach, geht es nun in ein Computerlabor. Nach der Anwesenheitskontrolle erläutert mein neuer Chef die Arbeitsbedingungen: Verfügbarkeit, Zuverlässigkeit und vierzig Stunden Probezeit, in denen wir unsere Fähigkeiten unter Beweis stellen sollen. Es gibt auch einen Vertrag. Dafür lerne ich ein neues Wort: vacataire, was in etwa der 'geringfügigen Beschäftigung' entspricht. Konkret bedeutet das: kein Urlaubsanspruch, keine Krankheitstage, Bezahlung stundenweise, keine Essensmarken und wöchentliche Planung. Von Autos - über die wir dann reden sollen - brauchen wir nichts zu verstehen, wir sollen nur aufschreiben, was uns der Kunde am anderen Ende der Leitung erzählt.

Wir unterschreiben, dass wir uns verpflichten, keine der in den Gesprächen gesammelten Informationen weiterzugeben und dass wir einverstanden sind, wenn die Firma uns ohne Erklärung und ohne Bezahlung nach Hause schickt, wenn es an diesem Tag nichts zu tun gibt. Das alles für 7 Euro und 66 Cent netto pro Stunde.

Eine Sehne für zehn Euro?

Ich werde in den Saal geschickt, in dem die italienische Mannschaft sitzt. Daneben gibt es noch spanische, deutsche und englische, außerdem türkische und russische Gruppen. Und alle hängen sie am Telefon. Ich setze mich zu einem Jungen, der das schon seit einigen Monaten macht, höre mir seine Fragen an und lese die Antworten mit, die er notiert. Dann eine kurze Pause: zehn Minuten.

Ich höre, wie ein italienisches Mädchen mit dem französischen Chef spricht. Sie ist 23 und hatte einen Sehnenriss im linken Arm, weil sie zu lange den Hörer gehalten hat. Die Firma hat ihre Anzeige wegen Fremdverschuldens durch eine Beförderung abwenden können. Dabei fällt mir auf: Kopfhörer gibt es hier natürlich auch keine.

Am Abend habe ich acht Stunden und 15 Minuten lang telefoniert, unterbrochen von zehn Minuten Pause alle zwei Stunden und einer dreiviertel Stunde Mittagspause, die nicht bezahlt wird.

Am nächsten Morgen bin ich um acht Uhr wieder da. Um mich herum höre ich Menschen aus mindestens zwanzig verschiedenen Ländern in zehn verschiedenen Sprachen reden: Bei einem Abstand von weniger als einem halben Meter zum Nebenmann ist es schwierig, sich auf das Telefonat zu konzentrieren und alles richtig mitzuschreiben.

Die anderen halten die Augen geschlossen. Ich komme mir vor wie ein kleines Rädchen im Getriebe, wie ein Arbeiter, der keine Rechte hat und austauschbar ist, wie in Liverpool zu Beginn der industriellen Revolution. Dann fällt mir ein: Ich bin in Paris, wir haben 2008 und Gewerkschaften gibt es auch. Allerdings nicht für uns.

Als ich ankündige, mich wegen der Arbeitsbedingungen beschweren zu wollen, hat mein Vorgesetzter, ein Südamerikaner, der schon lange hier ist und für 10,20 Euro pro Stunde seinen Posten behauptet, eine einfache Antwort: "Wenn es dir nicht passt, dann leg den Hörer auf und geh." Und er hat recht. Ich lege auf und gehe, soll ein anderer um acht Uhr morgens die Leute anrufen, nur um sich dann anzuhören: "Mein Mann kann jetzt nicht, der ist im Krankenhaus" und dann trotzdem auf einem Termin in zwei Wochen bestehen, in der Hoffnung, dass der Mann bis dahin wieder auf den Beinen ist. Wir befinden uns in Paris, im Jahr 2008 und die jungen Menschen aus ganz Europa treffen sich in dieser Lagerhalle. Ihr einziger Schutz ist ein Plastikdach.

*Aus Gründen der Diskretion wurden Firmennamen und die Namen der befragten Personen verändert.

(Homepage-Foto: divine_harvesterTM)

Translated from Call center, un altro modo di dire Europa