Europa braucht eine neue Geschichte
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Rebecca ZeilAnlässlich des Europatages 2018 veröffentlichen wir eine Kolumne mit dem Aufruf zur Veränderung der Narrative des heutigen Europas. Weil wir daran glauben, dass es an der jungen Generation liegt, die Fortsetzung für die Geschichte des Alten Kontinents zu schreiben.
Alle Jahre wieder ist Europatag. Ja genau, dieser Tag, der die Schuman-Erklärung von 1950 feiert. Der Tag an dem die Europäer beschlossen, die jahrhundertelangen Konflikte beizulegen. Geschichtsbücher halten ihn als den Moment der Gründung einer Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) fest. Mit dem Ziel weitere Kriege, insbesondere zwischen Deutschland und Frankreich, durch die Zusammenlegung der Kohle- und Stahlproduktion einiger europäischer Länder materiell unmöglich zu machen und stattdessen die Zusammenarbeit zu fördern… Ihr wisst schon wie es weiter geht.
Am 9. Mai 1950 hatte Europa eine gute Geschichte zu erzählen. Sie basierte auf glorreichen Träumen, fantastischen Erzählungen und illustren Persönlichkeiten. Europa ging aus einem grauenhaften Krieg hervor, doch entwickelte sich umso stärker, voller Ideale und Tatendrang. All das betrachtete die Geschichte und nahm den Alten Kontinent in all seiner Pracht wahr. Noch war keine Rede von Institutionen. Europa war zunächst ein Roman. In seinem 1961 veröffentlichten Buch History of the Idea of Europe, befasste sich der italienische Politiker Federico Chabod mit dem Konzept des „europäischen Bewusstseins“. Er beschreibt es, als eine Mischung der gräko-romanischen Antike mit französischen, italienischen, deutschen und britischen Ideen, die die vorangegangenen Jahrhunderte dominierten. Die Geistesgrößen der Zeit trugen die Namen Burke, Guizot, Machiavelli, Montesquieu, Rousseau, Voltaire… Ihr wisst schon wie es weiter geht.
Sagen wir es frei raus: das heutige Europa hat keine Geschichte mehr
Ein halbes Jahrhundert nach seiner Gründung durch Schuman, Monnet oder Chabod ist Europa nur noch ein unantastbares Konzept, dessen Verteidigung unglaublich schwerfällt. Im Falle „großer“ europäischer Proteste, reicht es, den Fernseher, Computer oder das Handy einzuschalten, um zu merken, wie üblich es geworden ist, Europa zu hassen.
Und wir, wir sind am Ende eines Buches angelangt, das zu schnell wieder zugeklappt wird. Zu spät. Irgendwann in den 2000er Jahren hat Europa aufgehört Geschichte zu schreiben. Wir beginnen gerade erst zu realisieren, dass die Geschichte, die uns erzählt wurde, von Desillusion handelt. In eine Welt geworfen, die zusammenstürzt wie Zwillingstürme, wachsen wir auf in einem Gemisch aus angsteinflößenden Wörtern (Krise, Austerität) und Akronymen (ESM, EZB, IWF). Statt neuer Kapitel erben wir Schulden, jene, die wir bezahlen werden müssen. Wir sind 20 Jahre alt und schon im Eimer. Und das wird uns auch noch Tag für Tag unter die Nase gerieben. Mit immer neuen Bezeichnungen für unsere Generation: „verloren“, „aufgeopfert“, „verwöhnt“, „verkommen“, „verdammt“. Assoziiert mit den letzten Buchstaben des Alphabets: XYZ. Schwer zu wissen wie es weiter geht, wenn man schon am Ende angelangt ist.
Was ist da passiert? Alles und nichts. Nichts zunächst, weil Europa nun in realitätsfernen Räumen geschrieben wird, in denen es nicht mehr darum geht, es zu erzählen, sondern zu erklären und mit Pop-Gun ähnlichen Waffen zu verteidigen. Alles, weil in der Leere des Narrativs neue Arten von Erzählungen gewachsen sind: leidenschaftliche, brutale, extreme. Aus einem offenen Buch, in das jeder hineinlesen konnte was er wollte, ist aus Europa einfach die EU geworden, ein Elfenbeinturm voll von Wahnvorstellungen und Moralpredigten. Könnte eine gute Rede vor dem Europäischen Parlament alles ändern? Nicht wirklich… sonst würden wir immer noch in einer binären, undifferenzierten, dichotomen Konzeption feststecken. Eine unendliche Geschichte, in der sich alles darum dreht „pro-“ oder „anti EU“ zu sein.
Ihr habt es wohl verstanden, wir wollen die Geschichte verändern, die über Europa erzählt wird. Wir wollen, dass es aus den dunklen Ecken Brüssels hervortritt, dass es seinen seltsamen Jargon und seine komplizierten Akronyme hinter sich lässt. Wir wollen, dass es sich an alle richtet, dass man es überall sieht, dass es aufhört ein abstraktes Konzept zu sein, um eine konkrete Realität zu werden. Wie? Indem wir die Art und Weise ändern, in der wir über Europa sprechen. Es ist 2018 und trotz allem gibt es noch gute Geschichten zu erzählen. Von jenen Digital Nomads in Lissabon, die die gesamte Welt auf ihrer Tastatur mit sich herumtragen, bis zu dem kurdischen Kämpfer, der in Skandinavien Zuflucht gefunden hat. Oder von jener jungen slowakischen Whistleblowerin, eine Haaresbreite davon entfernt ihre Regierung zu stürzen, bis zu der jungen Italienerin, die zu Emmanuel Macrons Aufstieg beigetragen hat.
Genauso braucht eine Geschichte eine Stimme. Unsere zukünftigen europäischen Intellektuellen – unsere nächsten Montesquieu, Mazzini oder Burke – sollten in verschiedenen Sprachen sprechen und schreiben können. Deshalb müssen wir unsere Anstrengungen verdoppeln, eine europäische Umgebung zu schaffen, in der die junge Generation in der Lage sein sollte ihren Platz zu finden. Eine neue kreative und positive Erfahrung, die sowohl den politischen als auch den medialen Raum beeinflussen wird. Eine Bewegung, die das Beste aus dem Geist unserer Generation ziehen und die Gemeinschaft der jungen Europäer dazu herausfordern wird, ihren Alltag oder den der anderen zu beschreiben. Damit erhält unser Kontinent vielleicht irgendwann ein passenderes Storytelling, das von russischen Steppen bis zu den ockernen Steilküsten von Faro reichen kann. Die Geschichte Europas ist noch nicht beendet, es liegt jetzt an uns die Fortsetzung zu schreiben.
Translated from L'Europe a besoin d'une autre histoire