Europa auf der Couch
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Obwohl Europa zahlreiche Erfolge aufweisen kann, ist es in der Krise. Die Europäer fürchten sich vor Arbeitslosigkeit, islamischem Extremismus, dem Beitritt der Türkei. Doch sie fangen an zu verstehen, dass Europa existiert.
Derzeit sind sich die Medien einig: Noch nie ging es Europa so schlecht wie heute. Doch dieses harte Urteil muss verwundern. Denn noch nie gab es soviel Europa wie heute. Mitte der Neunziger hoben zahlreiche Staaten im Schengener Abkommen die Kontrollen an ihren Grenzen auf. 2002 führten zwölf Länder den Euro ein, und vor zwei Jahren erweiterte sich die EU in einem historischen Schritt nach Osten.
Lebensgefühl Unsicherheit
Inzwischen ist die Sektlaune verflogen. Das „Non“ der Franzosen zur EU-Verfassung vor einem Jahr hat gezeigt, dass viele Bürger im Westen Europas die EU nicht mehr für eine Chance, sondern für die Ursache ihrer Probleme halten. Und das Problem heißt: Arbeitslosigkeit. Vor allem junge Menschen sind davon betroffen, sie finden nach ihrer Ausbildung keine Arbeit. Die Jugendarbeitslosigkeit lag im Jahr 2005 in Deutschland bei 15 Prozent, in Frankreich und Italien bei über 20 Prozent. Andere müssen sich mit Praktika oder schlecht bezahlten Jobs über Wasser halten. «Heute ist es fast unmöglich, gute Arbeit zu finden », sagt etwa Fanny, eine 23-jährige Französin. «Viele Firmen stellen Praktikanten ein, um einen vollen Job zu besetzen. Nur wollen sie eben nicht voll bezahlen ». Deshalb hat Fanny nach dem Studium beschlossen, sich Génération Précaire anzuschließen, was sich mit „Generation Ungewissheit“ übersetzen lässt. Diese Initative fordert auf ihrer Website Praktikanten auf, von ihren Erfahrungen zu berichten und sammelt Unterschriften für eine Petition. Diese fordert mehr Rechte für Praktikanten und soll bald dem Europaparlament vorgelegt werden.
Doch Fannys Engagement bleibt nicht auf ihre Heimat beschränkt. « Wir haben festgestellt, dass es in Deutschland Initiativen gibt, die die gleichen Ziele haben », sagt sie. Im Februar hat sich Génération Précaire deshalb mit Vertretern des deutschen Vereins Fair Work getroffen. Das Ergebnis heißt « Generation P », wobei das P für Précaire und Praktikum zugleich steht. Es ist ein loser Zusammenschluss, der am 1. April in Berlin, Paris und Wien eine erste Demonstration organisierte. Die jungen Menschen zogen dabei mit weißen Masken durch die Straßen. « Ich bin beliebig austauschbar, der Arbeitsmarkt braucht mich nicht», soll das heißen. Ein Gefühl, das viele junge im Westen des Kontinents teilen.
Anstieg an Misstrauen und Feindschaft
Doch nicht nur ihre berufliche Zukunft bereitet den Europäern Sorge. Ein Bericht des International Helsinki Federation for Human Rights (IHF) meldete im März 2005 einen « Anstieg an Misstrauen und Feindschaft » gegenüber der muslimischen Minderheit in der EU. Hervorgerufen wurde dieses Misstrauen durch islamistische Attentate. Selbst Länder, deren Einwanderungspolitk als vorbildlich galt, bleiben davon nicht verschont. Im Winter 2004 erschütterte der Mord an dem Regisseur Theo van Gogh die Niederlande. Der Täter: Mohammed Bouyeri, ein islamistischer Fanatiker mit niederländischem und marokkanischem Pass. Forderungen nach dem « Ende der Toleranz » wurden in den Niederlanden laut, inzwischen hat die Stadt Rotterdam einen «Bürgerschafts-Code» eingeführt, der die Bürger verpflichtet, « in der Schule, bei der Arbeit, auf der Straße » holländisch zu sprechen. Integrationsministerin Rita Verdonk, für ihre harte Linie bekannt, will diesen Code nun im ganzen Land anwenden. Ähnliche Ideen wurden nach den Attentaten in der Londoner U-Bahn auch in Großbritannien laut. Dort diskutiert man über einen Test, in dem Einwanderer ihre Kenntnisse der britischen Kultur beweisen müssen, wenn sie Briten werden wollen. Eine Idee, die jetzt auch bis nach Deutschland und Österreich vorgedrungen ist.
Diese Diskussion um die Integration von Muslimen hat längst die Europapolitik erreicht. Dort konzentriert sie sich auf die Frage, ob die Türkei der EU beitreten soll. In einer Eurobarometer-Umfrage vom Dezember 2005 erklärten nur 31 Prozent der Befragten, sie seien für eine Aufnahme des Landes. Mehr als die Hälfte sprachen sich dagegen aus. Die Türkei landete in der Umfrage auf dem letzten Platz, noch hinter den Kandidaten Serbien-Montenegro und Albanien. Lange Zeit waren es nur Populisten, die gegen einen Beitritt mobil machten, doch inzwischen lassen immer mehr Führer konservativer Parteien durchblicken, dass ihnen nicht an einem Beitritt der Türkei gelegen ist, sei es Nicolas Sarkozy in Frankreich oder Angela Merkel in Deutschland.
Aufklärung, Rationalität, Menschenrechte
Doch auch in der Zivilgesellschaft regt sich Widerstand. Der tschechische Verein European Values ist ein Beispiel dafür. „Europa sollte erst seine eigene Identität klären, bevor es die Türkei aufnehmen kann“ sagt Anna Matuskowa, 27, die im Vorstand des Vereins aktiv ist. European Values organisiert mit Unterstützung der CDU-nahen deutschen Konrad-Adenauer-Stiftung Diskussionen über die europäische Identität. Wenn man Matuskowska danach fragt, was denn die europäische Identität sei, spricht sie von „Aufklärung, Rationalität und Menschenrechten“ – und sieht deshalb offenbar keinen Platz für die Türkei im Europäischen Club.
Argumente wie diese hat Ahmet Evin, Professor an der Istanbuler Sabanci-Universität schon oft gehört. Überzeugen können sie den Politologen nicht. „Viele Europäer halten die Türkei für einen islamischen Staat. Doch nur wenige wissen, dass Kirche und Staat in der modernen Türkei getrennt sind“, sagt er. Evin sieht die gegenwärtige Ablehnung eines Türkei-Beitritts als Folge der innereuropäischen Krise. Die Politiker versuchten, die Angst vor dem Islam zu nutzen und kurzfristig mit dem Thema Türkei zu punkten. Inzwischen hat aber auch das Europaparlament in Sachen Türkei Skepsis geäußert. Mitte März empfahl es, vor der nächsten Erweiterung die Reform der Insitutionen abzuschließen.
Ist Europa wirklich in der schwersten Krise seiner Geschichte? Vielleicht. Doch die Diskussionen über die Krise der EU zeigen, dass das Bewusstsein für Europa sich zu regen beginnt. Viele kritisieren die EU für ihre Politik. Doch sie tun das, weil sie sich als Europäer fühlen. Wie Fanny, die studierte Praktikantin aus Paris. Obwohl sie vor einem Jahr gegen die EU-Verfassung gestimmt hat, sagt sie: „Ich will etwas verändern, nicht nur nein sagen“, meint sie. Und fügt hinzu: „Schließlich bin ich eine überzeugte Europäerin.“