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EU-Russland Gipfel: Nomaden gegen Ölgiganten

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n- ost

Im westsibirischen Chanty-Mansijsk findet der diesjährige EU-Russland Gipfel statt. Die in der Taiga ansässigen Nomadenvölker stehen im krassen Gegensatz zu dieser boomenden Ölstadt, in der sich am am 26. und 27. Juni die Staatsoberhäupter versammeln.

Die Nomadenvölker der Chanty und Mansi, nach denen der westsibirische Gipfelort Chanty-Mansijsk benannt ist, leben hoch oben in der Taiga Westsibiriens. Dort, wo es keine Stromleitungen und keinen Handyempfang mehr gibt, wo keine Straße mehr hinführt. Das Luftkissenboot prescht mit schnellem Tempo auf dem eiskalten Ob-Fluss nach Norden. Drei Stunden dauert die Fahrt von der boomenden Ölstadt Chanty-Mansijsk bis zur kleinen Siedlung Nasim. Dazwischen liegen Jahrhunderte.

Leben wie die Vorfahren

Nur in den drei kurzen Sommermonaten ist diese Zeltsiedlung am Ufer des Ob das zu Hause der Nomaden. Im Winter, wenn der Fluss meterdick zugefroren ist, wandert der Clan durch die eisige Taiga. Die Männer jagen Hirsche und Rentiere - bei bis zu minus 60 Grad Kälte. Ein hartes Leben. Viele von ihnen haben zu Sowjetzeiten in Chanty-Mansijsk gelebt. Die Partei hatte sie gezwungen, auf den Kolchosen zu arbeiten. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion sind sie in die Taiga aufgebrochen, um ihre traditionelle Lebensweise wieder aufzunehmen.

Wie einst ihre Vorfahren wollen sie unabhängig von der modernen Welt leben, erklärt Albina Dmitrowa. Die zierliche alte Frau im bunten Kleid und Fellschuhen holt frisch gebackenes Brot aus dem Steinofen. Sie murmelt ein Gedicht vor sich hin, das nicht ansatzweise Russisch klingt. "Alle Völker heißen Chanty", sagt Albina Dmitrowa lächelnd. Denn "Chanty" sei in ihrer Sprache das Wort für "Mensch". Die Dialekte Chantysch und Mansisch stehen heute auf der Liste der bedrohten Sprachen der Unesco. Es wird geschätzt, dass nur noch zwischen 10.000 und 30.000 Menschen insgesamt die verschiedenen Dialekte beherrschen. Und mit den Sprachen stirbt meist auch die Kultur der Völker aus.

Der erbitterte Kampf gegen die Ölfirmen

Die Chantyn Lydia Sudmanowa denkt nur in kleinen Schritten. Die quirlige Frau ist Sprecherin der Siedlung Nasim. Das erkennt man an ihrem Handy, das sie in einer selbst bestickten Brusttasche um den Hals trägt. Doch Empfang habe sie nur viele Kilometer flussaufwärts, Richtung Süden, sagt sie. Beim Abendessen, zwischen Fischsuppe und Elchfleisch, erzählt Sudmanowa von ihrem erbitterten Kampf gegen die Ölfirmen. Die russischen Ölgiganten Rosneft, Lukoil, Surgutneftegas und Gasprom Neft erwirtschaften in der Region den Löwenanteil ihrer Gewinne. 70 Prozent der bislang erschlossenen Ölressourcen Russlands liegen in der westsibirischen Taiga vergraben. Das sind sieben Prozent der weltweit sprudelnden Erdölquellen.

Russlands Ölboom hat die Taiga gezeichnet: Straßen aus Sand und Betonplatten zerfurchen die sumpfige Landschaft. Eine Kolonne von 300 Lastwagen versorgt täglich nur ein einziges Ölfeld mit Technik und Ausrüstung. Pipelines ziehen sich wie silberne Schlangen durch die Sumpfgebiete. Lydia Sudmanowa guckt traurig flussabwärts. "Als sie die Brücken bauten, wurde der Fluss völlig versandet", seufzt sie. Das Ufer in der Nähe der Siedlung sei stark verseucht, der Sand fast schwarz. Öl? Sie zuckt mit den Schultern. "Was soll es denn sonst sein, andere Industrie haben wir hier ja nicht."

Die Umweltorganisation Greenpeace berichtet über die Region: Jährlich werden fast 300 Havarien mit Ölaustritten von bis zu 100.000 Tonnen gemeldet - und das sind nur die amtlich registrierten.Doch Lydia Sudmanowa hat Hoffnung. Jahrelang hatte der Verband der Chanty und Mansi mit den Ölfirmen verhandelt. Gemeinsam zogen sie vor Gericht, um gegen die Umweltzerstörung zu klagen. Doch gewirkt hat letztlich vor allem eines: die Tatsache, dass das Öl nicht ewig reichen wird.

Ökotourismus als Waffe gegen die Umweltverschmutzung

Das hat auch der Gouverneur der Region, Alexander Fillipenko, eingesehen. In rund hundert Jahren, zitiert er die Prognose des örtlichen Forschungsinstituts, seien die Reserven erschöpft. "Wir müssen andere Wirtschaftszweige aufbauen", verkündet er. Er will Chanty Mansijsk zu einer Touristenattraktion machen, die Souvenir-Läden entlang der frisch gepflasterten Einkaufsstraße der Bezirkshauptstadt lassen es erahnen: Die Kultur der Chanty und Mansi soll zum Aushängeschild für das künftige Erholungsgebiet werden.

In einem größeren Dorf, 20 Minuten von der Siedlung Nasim entfernt, soll nun eine Schule gebaut werden. Die Betonplatten hat die Bezirksverwaltung schon mit dem Schiff dort abladen lassen. Auch ein Krankenhaus und eine Kühlhalle mit eigenem Stromgenerator wurden gebaut. Lydia Sudmanowa strahlt. Doch die Situation hat sich nur ein wenig verbessert, das muss sie zugeben. Die mangelnde Ausbildung und die Alkoholsucht der Männer seien schwer in den Griff zu bekommen.

Dass Präsident Dmitri Medwedew dem Chanty-Dorf Kasim nun einen Besuch abstatten will, bedeutet Lydia Sudmanowa viel: "Es ist ein Zeichen, dass wir auch in Moskau ernst genommen werden." Bevor er Präsident wurde, war Dmitri Medwedew Aufsichtsratschef des Gasriesen Gazprom, dessen Tochterfirma für das Ölgeschäft Gazprom Neft in der Region acht Bohrfelder unterhält. Und so kann Medwedew dem Westen eine ganz neue Seite der russischen Ölindustrie vorführen: die umweltbewusste und sozial verantwortliche, um auch dieses schlechte Image etwas aufzubessern.

Video zum Tourismus in der westsibirischen Region

Die Autorin dieses Artikels, Simone Schlindwein, ist Mitglied des Korrespondenten-Netzwerks n-ost

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