„Estland sollte demokratischer und toleranter werden“
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Am 4. März finden in Estland Parlamentswahlen stand. Im Interview kritisert der Kulturminister Raivo Palmaru die Presse seines Landes und den Zustand der jungen Demokratie.
Wie demokratisch ist Estland nach 15 Jahren Kommunismus und welche Rolle spielt die Presse dabei? Darüber macht sich Palmaru im Interview mit cafebabel.com Gedanken.
Der Politiker der linken Zentrumspartei war in der Sowjetzeit ein treuer Diener des Regimes, er arbeitete für die Kulturabteilung des Zentralkomitees der kommunistischen Partei. Nach dem Fall des eisernen Vorhangs wurde er Journalist. Raivo Palmaru wurde zweimal, 1995 und 1996, zum besten Publizisten Estlands gewählt, er hat mehr als 500 Artikel und einige Bücher zur Kommunikationstheorie geschrieben, u.a. „Medienmacht und Demokratie. Estlands Erfahrungen “.
Herr Palmaru, wie sind Sie Journalist geworden?
Durch Zufall. Meine Klassenlehrerin, die auch meine Literaturlehrerin war, sagte immer: „Du musst Journalist werden“. Ich selbst dachte, dass meine wirkliche Berufung die Wissenschaft sei. Aber es kam doch anders – ich wurde Publizist.
Wie war das während der Sowjetzeit? Haben die Behörden damals von Journalisten Idealismus gefordert?
Das ist eine schwierige Frage. Eigentlich war es im sowjetischen Estland leicht, Journalist zu sein. Die Blätter waren dünn und voll mit irgendwelchem Schutt. Es gab relativ wenig Arbeit. Ein guter Reporter musste in der Sowjetzeit einen Bericht pro Woche schreiben. Das war sogar zu viel!
Die estnische Gesellschaft war damals sehr verschlossen. Der Einfluss des sowjetischen Systems auf das Hirn der Menschen war überraschend stark – und er dauert bis heute an. Ich hatte gehofft, dass junge Menschen, die im freien Estland leben, das überwinden. Jetzt sehe ich aber, dass es nicht so einfach ist.
Der Übergang aus der geschlossenen Gesellschaft in die freie Welt - erfüllt die Presse dabei ihre Pflicht? Werden den Lesern politische Analysen und genügend Informationen angeboten?
Was mich in Estland stört, ist der Umgang mit unserer kommunistischen Vergangenheit. Wie in der Sowjetzeit sehen die Esten die Realität oft nur in den Gegensätzen „Wir“ und „die Feinde“.
Deswegen hege ich beim Thema Pluralismus ein gewisses Misstrauen. Wenn Sie den Debatten in Estland aufmerksam folgen, können Sie nicht viel Argumente finden. Es werden nur spitze Behauptungen in Anklageform vorgebracht. Entweder man gehört zu dieser oder zu jener Seite. Eine dritte Möglichkeit gibt es nicht. Estland ist zur Zeit leider keine sehr pluralistische und tolerante Gesellschaft.
Fällt es Ihnen als früherer Journalist und jetziger Politiker leichter, mit Journalisten zurecht zu kommen?
Nein. Es mag sein, dass es so wäre, wenn ich in der Zwischenzeit nicht Medienwissenschaftler und Lehrkraft gewesen wäre. Ich unterrichte neben meinem Ministeramt immer noch. Gerade deshalb sehe ich die Probleme in der Presse und kann meinen Mund nicht halten.
Ist die Presse die vierte Macht im Lande?
Die Frage ist, ob sie nicht schon die erste Macht ist. Der Philosoph Michel Foucault hat behauptet, dass die Gesellschaft mit Hilfe von Diskursen geführt wird. Er bezeichnet das mit disziplinärer Macht. Traditionelle politische Macht, die mit Willen und Gewalt verbunden ist, wird heutzutage nur dann benutzt, wenn nichts anderes zu machen ist. Doch die Medien haben die Macht des Diskurses. Und das ist nicht nur in Estland so.
Die Medien beeinflussen also die Politik in Estland?
Ja, sehr stark. Die Presse prägt ein Bild über die Wirklichkeit und die Menschen treffen ihre Entscheidungen nach diesem Bild. Die Darstellung in den Medien beeinflusst auch Wahlergebnisse.
Das Problem in Estland ist nicht die Böswilligkeit der Journalisten. Die Menschen sind erst vor kurzem aus dem dunklen und feuchten Keller der Sowjetzeit heraus gekommen und können sich jetzt in der Wirklichkeit, die sie umgibt, nicht orientieren. Im Staat herrschen laut Grundgesetz Demokratie und freie Marktwirtschaft. Aber den Esten fehlt die kollektive, aber auch die persönliche Erfahrung, in einem solchen Staat zu leben.
Wir brauchen drei Dinge: Zuerst besseren Unterricht; zum zweiten stärkere Berufsverbände – der estnische Journalistenverband ist viel zu schwach – und zum dritten eine bessere Justiz. In den Medien Estlands sind Verleumdungen, Verletzungen des Urheberrechts und Beleidigungen so normal wie der Wetterbericht. Da müssen die Gerichte einschreiten.
Wie frei kann denn die freie Presse überhaupt sein?
Die Presse muss maximal frei sein. Doch es gibt eine Grenze: Die Freiheit ist dort zu Ende, wo die Nase des anderen Menschen anfängt. Verantwortung und Freiheit sind zwei Seiten derselben Medaille. Das ist das große Problem der estnischen Presse. Das, was im postsowjetischen Sinne als Freiheit bezeichnet wird, ist keine Freiheit, sondern Willkür. Man glaubt, alles tun zu dürfen ohne sich mit den Geschehnissen auseinander zusetzen, Tatsachen zu verbiegen, Menschen zu beschimpfen und zu beleidigen. Richtige Freiheit hat mit Verantwortung zu tun. Estnische Medien handeln verantwortungslos und deshalb haben sie keine Freiheit.
Ist Estland reif für ein politisches Magazin vom Typ „Der Spiegel“?
Nein. Ich mache mir um Estland etwas Sorgen. Das ist auch der Grund, warum ich in die Politik gegangen bin. Meine Heimat braucht politische Reformen in Richtung Demokratie. Ich denke, dass man in Estland das Wahlsystem ändern muss und damit auch das Regierungssystem. Wir müssen das radikale Mehrparteiensystem aufgeben, das nichts Gutes mit sich bringt.
Zweitens muss man die Macht dezentralisieren. Und drittens sehe ich, dass hier eine diskursive Krise herrscht. Das kommt mit dem Populismus und der scharfen politischen Rhetorik zum Vorschein. Die Politik vereinfacht die Probleme und bietet Lösungen an, die nicht funktionieren. Estland sollte reifer, demokratischer und toleranter werden.