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Errico Malatesta: der Lenin Italiens

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Kultur

Es ist die Geschichte eines Helden vergangener Zeiten: Errico Malatesta (1853-1932), Propagandist, Revolutionär und Herausgeber einer italienischen anarchistischen Zeitung - Umanità nuova (Neue Humanität). Ein neues Buch erzählt sein Leben, von den frühen Jahren in Süditalien über das Exil in England bis hin zu seiner Rückkehr nach Hause.

Ein langer schwarzer Bart, den Blick fest auf die Kamera gerichtet, die das Fahndungsfoto aufnimmt. Der Anarchist Errico Malatesta reiste um die halbe Welt, um auf zahlreichen Kundgebungen eine Vorstellung zu verbreiten, die hart bekämpft wurde und sich trotzdem hartnäckig durch die Geschichte hielt.

Vittorio Giacopini präsentiert in seinem neusten Buch Non ho bisogno di stare tranquillo (auf Deutsch in etwa: 'Ich brauche keine Ruhe') „den von allen Regierungen und Polizeibehörden des italienischen Königreiches gefürchteten Revolutionär“, wie der vielversprechende Untertitel des im Januar veröffentlichten Buches illustriert.

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Der rote, oder vielmehr schwarz-rote Faden dieses Werkes ist die Erinnerung: Ein alter, schwacher und kranker Mann, der an eine Sauerstoffflasche angeschlossen ist, lebt zurückgezogen in der Via Andrea Doriain in Rom. Doch seine eintönigen Tage sind angefüllt mit dem Echo der Vergangenheit. So entdeckt der Leser ein romantisches und heldenhaftes Schicksal des 19. Jahrhunderts, das auf die erschütternden Ereignisse des 20. Jahrhunderts trifft. Wir stehen einem Mann gegenüber, der hartnäckig, gefürchtet und zugleich isoliert ist, der wartet und explodiert und doch immer wieder besiegt wird. Doch wenn die Besiegten keinen Platz in der Geschichtsschreibung finden, obwohl sie viel zu erzählen hätten, so lehrt uns Errico Malatesta eine menschliche Hartnäckigkeit, bei der er fällt, erhobenen Hauptes wieder aufsteht und über sich selbst lacht.

Die Geschichte einer europaweiten Revolution

Im Buch wird Intimität zugelassen, ein Element, das in den Schriften Malatestas fehlt. Dabei wird ein Mensch lebendig, der gegen seinen Willen – Ironie des Schicksals – zu seinen Lebzeiten eine Art „Heiliger“ geworden ist, der „Lenin Italiens“, der Rebell, der Funke an der Zündschnur einer Revolution, die niemals ausgebrochen ist. Der Autor erschafft somit eine Figur, die sicherlich auf ihre Art heldenhaft ist, die jedoch zweifelt, sich langweilt und mit einer gewissen Ironie in Erinnerungen schwelgt. Letztendlich akzeptiert sie die notwendigen, aber niemals sinnlosen Niederlagen.

Das Buch berichtet vom Matese-Aufstand, von jungen Anarchisten, die ebenso bewaffnet wie desorganisiert sind, vom bäuerlichen Süden Italiens, das es aufzuwiegeln gilt. Von der Ratlosigkeit der Dorfbewohner, die angesichts so viel politischer Theorie Errico Malatesta zum Aufruf veranlassten: „Wir haben euch Gewehre und Äxte gegeben. Messer habt ihr schon. Kämpft oder schert euch zum Teufel!“ Doch er tat alles andere als sie zum Teufel zu schicken.

Das Gefängnis, das Exil, die Reisen, die Kundgebungen, die endlose und aufreibende Warterei bevor zur Tat geschritten wird, bevor der Aufstand ausbricht, das Pulverfass der Revolution die herrschende Ordnung sprengt. Und stundenlang, tagelang, gar wochenlang rückt das Ziel in greifbare Nähe.

„Der Traum von einer Welt, in der alle glücklich sind“, dies ist nicht der Titel eines Grundschulaufsatzes, sondern ein Ideal, für das hart gekämpft wurde, grausam und überaus hartnäckig, quer durch Europa , von der italienischen Region der Marken über London und Paris und weiter nach Ägypten und bis nach Übersee.

„Maßlose und doch notwendige Träume“

Sowohl in der aktuellen Politik als auch in der Literatur wird das anarchische Denken großteils ausgeblendet.

Die Geschichte hat andere Wege eingeschlagen und folgte anderen Ideologien mit bekanntermaßen tragischen Folgen. Sowohl in der aktuellen Politik als auch in der Literatur wird das anarchische Denken großteils ausgeblendet. Es ist offensichtlich: Die Gesellschaft wagt es nicht, sich selbst derart grundlegend in Frage zu stellen. Revolutionäre Bewegungen, Aufstände und die Erfahrungen der Kommunen haben in den Geschichtsbüchern nur wenig Erwähnung gefunden - das gnadenlose Äquivalent zur ihrer kurzen Dauer.

Attentate, Diebstähle, Gewalt und jegliche Art der Unruhe wurden den Anarchisten untergeschoben - eine alte Praxis, die heutzutage immer noch modern ist. Sie wurden zu idealisierten Figuren, zu Legenden, als gefährliche Terroristen (nicht alle) verfolgt, beschattet, ins Gefängnis gebracht und aus der Internationalen und allen anderen Bewegungen ausgeschlossen. Denn ihre Träume und Aufrufe waren zu übertrieben und zu fern jeder Realität. Die Anarchisten waren einsam und gerecht mit „ihren maßlosen und doch notwendigen Träumen“.

Anfang des 20. Jahrhunderts landete Malatesta im verregneten London, wo er völlig ölverschmiert mit großem Geschick Fahrräder reparierte und baute. Seine Faszination für diese leichte, schnelle, futuristische Art der Fortbewegung brachte ihn zu den Zweirädern. Malatesta scheint wie ein früher Umweltschützer, aber mehr noch ist er ein praktischer Mensch, der das Denken mit der körperlichen und schmutzigen Handarbeit verbindet, als ob er, von Zeit zu Zeit, ermüdet von dem ganzen Reden und dem langen Warten etwas Greifbares und Konkretes schaffen wollte. Seine Erinnerungen schweifen von Ancona, der Brutstätte anarchistischer Aktivitäten mit ihrem „dreisten Ehrgeiz“, bis hin zur Bombe im Klub-Theater Kursaal Diana in Mailand und seinem Zorn über Verbrechen und Verwüstung.

Gewohnheitsleser von Giacopini können die Fantasie des Autors, die schon sein letztes Buch L'arte dell'inganno [auf Deutsch in etwa: 'Die Kunst der Täuschung'] prägte, in diesem Buch wiederfinden. Der Autor lässt absichtlich Geschichte, Legende und reine Literatur ineinander fließen. Doch Malatesta sagte einmal, dies habe keine große Bedeutung und so denkt auch Giacopini. Denn die Übermittlung dieser wenig bekannten oder verzerrten Erzählungen ist ein „führender Lichtstrahl, der zum Nachdenken anregt.“ Und die Fantasie schmälert nicht zwangsweise den historischen Wert.

Die derzeitige Zügellosigkeit und die Krise des kapitalistischen Systems zwingen uns zum Rückblick auf diese Erfahrungen, zur Wiederentdeckung der Solidarität, des Tauschs von Zeit und Waren und der Bereitschaft, weniger zu besitzen, damit alle genug haben. Der Staat, der mehr oder weniger für unsere Rechte einsteht, wird dadurch nicht in Frage gestellt. Noch immer bezieht man sich jedoch, bisweilen unbewusst, auf die anarchistische Lehre, oder besser gesagt auf ihre Kernaussage, um die Welt menschlicher zu gestalten und ein „bewusstes und aktives Leben“ zu ermöglichen.

London im Juli 1913, aber es ist trotzdem kalt, düster, regnerisch und fremd –fremd sogar für einen Anarchisten, der das Konzept von Grenzen grundlegend ablehnt. Doch auch hier gehen Malatestas Ideale nicht verloren, sie vermischen sich mit dem alltäglichen Leben in der Stadt des Wartens und des Exils.

Der fieberhafte Tatendrang verbindet den nach Italien zurückkehrenden Anarchisten mit dem Kapitän Giuseppe Giulietti, einem Freund D'Annunzios. Beide sind bereit „alles zu wagen“, der eine für den anarchistischen Aufstand, der andere für die gewaltsame Vollendung der italienischen Einheit. Was ist daraus geworden? Was ist wirklich geschehen? Findet es selbst heraus!

Illustrationen: Teaser (cc)drawpunk/flickr; Im Text: Malatesta mit freundlicher Genehmigung von ©Centrostudilibertari.it; Buch © Eleuthéra Editrice

Story by

Translated from Errico Malatesta, sogno e risveglio di un anarchico europeo