Eröffnung Filmfest Hamburg 2012: Wet Red Carpet
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Live vom pitschnassen roten Teppich des Filmfests in Hamburg, das dieses Jahr mit dem Film Valley of Saints aus Kaschmir eröffnete.
Schlotz. Schmatz. Quietsch. Hat sich ein Teppich erst einmal mit Wasser vollgesogen, ist es völlig unmöglich, ihn mit Würde zu überschreiten. Ganz egal, ob dieser jemand nun einen A-bis-Z-Promistatus um den Hals trägt oder Stöckelschuhe oder Budapester an den Füßen. Und weil die Veranstalter des Hamburger Filmfests 2012 ihr Schietwetter genau kennen, haben sie ihrem roten Catwalk eine - freilich nicht unbedingt hübsche - aber Eyeliner-schonende Überdachung verpasst.
Roter-Teppich-Bericht, also
Machen wir es kurz: Das Make-Up hielt (das Lächeln nicht immer), die Frisuren saßen, die Kameras klickerdiklackten im Blitzlicht-Stakkato. Die Fotografen brüllten, hoben ihre Apparate in die Höhe und machten verstörend-aufmerksamkeitsheischende Fingergesten – nur, um den besten 'Abschuss' in die Redaktion tragen zu können. Männer und Frauen und Frauen und Männer reihten sich brav ein, manche zelebrierten die wenigen Meter bis zum Eingang, dass ich schon über einen Riss im Raum-Zeit-Kontinuum sinnierte, andere kompensierten die verlorene Zeit, indem sie flink wie Road Runner im Multiplexeingang verschwanden.
Mich fotografierte niemand. Dabei stand meiner einer – die in Plastik eingeschweißte Akkreditierung um den Hals baumelnd - doch auch auf dem roten Teppich. Gut, auf dem letzten Fitzelchen ganz hinten, genau neben dem Mann mit dem breiten Kreuz, und wartete darauf, dass mir doch noch Einlass gewährt würde. Denn natürlich hatte ich überlesen, dass für öffentliche Abendvorstellungen gesondert Eintrittskarten abgeholt werden mussten. Hatte ich nicht getan, rein wollte ich trotzdem und weil so ein Typ im abgehalfterten schwarzen Cordsakko nunmal nicht so schön auf dem roten Teppich aussieht, stand ich wenig später im Foyer des Cinemaxx Dammtor.
Eröffnungsfilm aus Kaschmir: Valley of Saints
Gut so, denn der Eröffnungsfilm klang wirklich spannend Valley of Saints, in Kaschmir gedreht (wachsen da nicht Pullover auf den Bäumen?), ein lokaler Bootsmann als Laien-, aber Hauptdarsteller - und irgendwie sollte auch noch eine ökologische Botschaft huckepack dabei sein.
Mir gelingt es tatsächlich, einen Sitz in der dritten Reihe Mitte zu ergattern – und das, obwohl ich die Frage einer Platzanweiserin „Reservierter Platz oder freie Platzwahl?“ wahrheitsgemäß mit „gar keine Karte“ beantwortet hatte. Im Vorprogramm wird viel gedankt, für Anwesenheit, monetären Beistand und überhaupt. Ich klatsche höflich mit, während die garstige Gravitation sich an meinen Lidern zu schaffen macht.
Und dann plötzlich diese Stimme: Cäthe! Mann, wie viele Zigaretten hat die Dame wohl in ihrem Leben schon durchgezogen? Rauchig, kratzig, zart, verletzlich und kräftig klingt es zugleich! Armer Bürgermeister Olli Scholz! Schon ein bisschen gemein, Deine Lobesrede auf die Kunst der Kinematographie in diese musikalische Meisterleistung zu quetschen.
Und dann öffnet er sich endlich, der Vorhang, reißt die Realität entzwei und katapultiert mich nach Kaschmir, genauer gesagt an den Dal-See, auf dem der junge Bootsmann Gulzar (Gulzar Ahmad Bhat) in einem Stelzenhaus lebt und eigentlich nur eins will – möglichst schnell abhauen. Wenn nicht plötzlich Asifa (Neelofar Hamid) auf der Bildfläche erscheinen würde, die energische Wissenschaftlerin, die in ihre alte Heimat zurückgekehrt ist, um den See vor der Verlandung zu retten.
82 Minuten später hat der Applaus nichts mehr mit Höflichkeit und Anstand zu tun. Gulzar Ahmad Bhat wird auf die Bühne gerufen und der Unglaube an die Wirklichkeit dieser Situation steht ihm ins Gesicht geschrieben. Der Bootsmann vom Dal-See hat den Film – seinen Film! – gerade zum allerersten Mal gesehen. Als er erklärt, es sei auch sein erster Besuch in einem Kino überhaupt und sein erstes Mal in einem Flugzeug gewesen, geht ein Raunen durch die Zuschauer. Ja, das Kino hat ihn noch nicht verloren, diesen ganz besonderen Zauber.
Illustrationen: Eröffnungsfilm ©Peerwar Pictures; Im Text ©Jens Wiesner; Video (cc)reelasianfilmfest/YouTube