Ergenekon entschleiert
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In der Türkei beschäftigt seit Monaten kein anderes Thema die Öffentlichkeit so wie der Prozess um das Ergenekon-Netzwerk. Diese Geheimorganisation des Militärs, der zahlreiche hochrangige Generäle angehörten, soll durch Anschläge versucht haben, den Vorwand für einen Militärputsch gegen die AKP-Regierung zu schaffen. Montag, 2. März 2009
Am 28.
Februar hat sich zum zwölften Mal der Putsch des türkischen Militärs gegen die Regierung des Islamisten Necmettin Erbakan gejährt. Wenn die türkischen Medien derzeit an dieses Ereignis erinnern, dann allerdings nicht allein wegen des Jahrestages, sondern auch wegen des Ergenekon-Prozess. Diese aus dem Militär hervorgegangene nationalistische Geheimorganisation, gegen die nach einer Reihe aufsehenerregender Waffenfunde im Oktober der Prozess eröffnet worden ist, soll auch bei dem Putsch 1997 eine zentrale Rolle gespielt haben.
Unter anderem soll sie einen Skandal um einen Geistlichen inszeniert haben – ihm wurde eine Prostituierte ins Bett gelegt - um die Geistlichkeit in Verruf zu bringen. Was nach einer Posse klingt, war durchaus ernst, diente es doch dazu, im Vorfeld des Putschs Stimmung gegen die islamistische Regierung zu machen. Der Vorwurf, wegen dem sich nun die Mitglieder Ergenekons vor Gericht verantworten müssen, geht in eine ähnliche Richtung: So sollen sie versucht haben, durch Anschläge Unruhe im Land zu schüren, um so den Vorwand für einen erneuten Putsch zu schaffen.
So wird vermutet, dass der Mord an dem armenischen Journalisten Hrant Dink im Januar 2007 auf ihr Konto geht. Auch für die Morde an drei christlichen Missionaren in Malatya im April 2007 soll Ergenekon verantwortlich sein. Der Militärputsch, der die islamisch-konservative Regierung Recep Tayyip Erdogans aus dem Amt vertreiben sollte, war angeblich für 2009 geplant. Dass es nun statt zu einem Putsch zu einem Prozess gekommen ist, geht auf den Fund einer Kiste Handgranaten im Istanbuler Vorort Ümraniye zurück.
Skandale, Suizide, Spekulationen
Seitdem häufen sich die Verhaftungen, darunter hochrangige Militär- und Polizeiführer. Zwei Verdächtige haben sich einer Anklage durch Selbstmord entzogen - nach Abdülkerim Kirca, angeblich Mitglied einer geheimen Gendarmerieeinheit, nun Ende Februar Kecet Oktay, dem Chef der Spezialeinsatzgruppen der Polizei. Andere Angeklagte wie der Ex-General Sener Eruygur haben sich mit angeblichen Gesundheitsproblemen in ein Militärkrankenhaus einliefern lassen, in der Hoffnung so dem Prozess zu entgehen.
Wenn aber die türkische Presse jede Wendung des Verfahrens mit höchster Aufmerksamkeit verfolgt, dann nicht allein deshalb, weil das Thema wie kaum ein anderes geeignet ist, die Lust der Medien an Skandalen zu befriedigen, sondern vor allem, weil der Prozess ein historisch beispielloser Vorgang in der Türkei ist. Noch nie hat die Ziviljustiz es gewagt, Angehörige des Militärs vor Gericht zu stellen - und die Militärs, die sich nun dem Richter stellen müssen, sind keineswegs einfache Soldaten.
Historisch beispielloser Vorgang
Dies ist besonders bemerkenswert in einem Land, in dem die Generäle stets beansprucht haben, als Verteidiger der Verfassung außerhalb der zivilen Ordnung zu stehen. Drei Mal haben sie diesem Anspruch durch den direkten Eingriff in die Politik Nachdruck verliehen. Doch in den letzten Jahren hat das Militär deutlich an Macht eingebüßt. Dies hängt mit der Wahl der islamisch-konservativen AKP zusammen, aber auch der EU-Beitrittsprozess hat den Druck auf die Militärs erhöht, sich aus der Politik herauszuhalten.
Wie wenig viele Generäle dazu noch immer bereit sind, zeigt die drohende Mahnung des Generalstabs an Presse und Justiz, den Ruf des Militärs mit ihren Enthüllungen nicht zu beschädigen. Wie wenig viele Journalisten aber bereit sind, noch länger die Unantastbarkeit des Militärs zu akzeptieren, zeigen Äußerungen wie jene des Kolumnisten Ihsan Yilmaz, der daraufhin schrieb, am meisten schade das Militär selbst seinem Ruf, wenn es sich an kriminellen Machenschaften wie jenen von Ergenekon beteilige.
Allerdings stößt der Prozess gegen Ergenekon auch auf Kritik – auch außerhalb nationalistischer, armeetreuer Kreise. Denn die zahlreichen Verhaftungen haben den Verdacht aufkommen lassen, dass die regierende AKP den Prozess nutzt, um eigene Ziele zu verfolgen und versucht, missliebige Personen zu diskreditieren, indem sie sie in die Nähe der Geheimorganisation rückt. So weist der Journalist Ömer Erzeren darauf hin, dass bei einigen der Verdächtigen eine Verbindung zu Ergenekon bisher kaum nachweisbar ist.
Geheim, autonom, unkontrolliert
Das nun offen gelegte Ergenekon-Netzwerk soll aus dem türkischen Arm der „Operation Gladio“ hervorgegangen sein. Diese auf einen Beschluss der Nato 1948 in allen Mitgliedsstaaten des Militärsbündnisses ins Leben gerufenen geheimen paramilitärischen Verbände sollten im Falle einer Eroberung Westeuropas durch die Sowjetunion hinter den Linien zurückbleiben, um dort durch Attentate und Sabotage gegen die Sowjets zu kämpfen. Sie werden daher auch „Stay behind“ genannt.
In zahlreichen Bündnisstaaten entwickelten diese Verbände, die nicht nur der Kontrolle der zivilen Behörden entzogen waren, sondern diesen vielfach gänzlich unbekannt waren, mit der Zeit ein Eigenleben. Nicht nur in der Türkei mischten sie sich in die Politik ein, wobei es vielfach zu Verbindungen mit dem organisierten Verbrechen kam. Der türkische Arm der „Operation Gladio“ war nach Ansicht von Experten der bedeutendste Verband. Anders als die Verbände in den anderen Staaten wurde er nach 1990 nicht aufgelöst.
Die Existenz dieses geheimen Militärnetzwerks ist nicht erst mit dem aktuellen Prozess ans Licht gekommen. Bereits 1996 hatte ein Unfall in Susurlak, bei dem ein Parlamentarier, ein Polizeioffizier und ein Krimineller in einem Auto verunglückten, Licht auf die Verwicklung der Sicherheitskräfte mit der organisierten Kriminalität geworfen. Dass der daraufhin eröffnete Prozess wie andere ähnliche Gerichtsverfahren nie zum Abschluss gekommen ist, lässt allerdings einige Zweifel aufkommen, ob der ungleich ambitioniertere Prozess gegen das Ergenekon-Netzwerk jemals zu Ende geführt werden kann.