Erasmus in Istanbul: „Die Zeit meines Lebens“
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Erasmusstudenten in Istanbul haben zwei Möglichkeiten: Sich auf das pulsierende und überaus politische Istanbuler Leben einzulassen oder sich auf dem weit abgelegenen Campus dem Erasmus-Komasaufen zu überlassen. Teil 2 eines Erfahrungsberichts.
Eine Erasmus-Studentin, die an der Halic Universität, einer anderen privaten Universität in einem vorwiegend islamischen Stadtteil studiert, erzählte neulich, dass sie zu der kleinen Minderheit der weiblichen Studierenden auf dem Campus gehöre, die kein Kopftuch tragen, was sie als sehr befremdlich empfinde. Obwohl in der laizistischen Türkei Kopfbedeckung in öffentlichen Räumen verboten ist, werden die Kopftücher in den meisten Universitäten toleriert. Meine Uni ist da wie in mancherlei Hinsicht eine Ausnahme. Muslimische Studentinnen, die ein Kopftuch tragen, ziehen sich das Kopftuch bei den Sicherheitsbeamten im Eingangsbereich aus und scheinen darüber oftmals nicht besonders unglücklich zu sein.
Apropos Eingangsbereich. Dieser Tage wird im Eingangsbereich der Yıldız Universität akribisch die Tasche jedes einzelnen Studis durchsucht. Der Grund: Vor einigen Wochen gab es eine Auseinandersetzung zwischen zwei studentischen politischen Gruppierungen, bei denen die Polizei einschreiten musste. Eine befreundete Erasmus-Studentin, die an der Yıldız studiert, erzählte mir, wie sie an besagtem Tag aus dem Seminargebäude kam und den Campus in Gaswolken gehüllt sah. Die Polizei, die eigentlich keine Befugnis hat, den Campus zu betreten, bombardierte die Streithähne so lange mit Tränengas, bis sie sie auseinander getrieben hatte. Die Art und Weise, wie der Staat hier Gewalt gegenüber seinen Bürgern anwendet, ist nicht nur interessant für Studenten, die sich mit dem Thema Macht und Staat auseinandersetzen, sondern tagtäglich erfahr- und beobachtbar.
Voraussetzung hierfür ist, dass man sich auf die Straße begibt. Erasmus-Studenten, die beispielsweise, wie häufig an meiner Uni der Fall, in Studentenwohnheimen auf dem abgesicherten, sauberen Campus wohnen, der knapp zwei Stunden vom Zentrum entfernt auf der asiatischen Seite liegt, bekommen von alledem nur wenig zu spüren. Aufgrund der Entfernung fahren sie nur selten auf die europäische Seite, wo das Leben pulsiert, und ihre Kontakte beschränken sich meistens auf andere Erasmus-Studierende ihrer Uni, mit denen sie abends in die Kneipe gehen und soviel Alkohol konsumieren, wie ihr Geldbeutel zulässt.
Ihre Anstrengungen, sich in das Istanbuler Leben zu integrieren beschränken sich auf ein minimales Maß, das meistens nicht einmal dafür ausreicht, die Sprache zu erlernen. Das hat ganz pragmatische Gründe. Die wenigsten Erasmus-Studenten leben mit türkischsprachigen Mitbewohnern zusammen. Selbst, wenn sie in Wohngemeinschaften leben - ein Konzept, das hier, vor allem in der zweigeschlechtlichen Variante, längst nicht so populär ist, wie in unseren Breitengraden - teilen sie diese mit anderen Erasmus-Studenten. "Am Anfang wollte ich ja auch mit Türken zusammenziehen, aber dann haben die anderen Erasmus-Leute die Wohnung hier gefunden. Ich denke, jetzt lohnt es sich nicht mehr auszuziehen", ist oft die Antwort, wenn ich frage, warum sie, wenn sie Türkisch lernen wollen, nicht mit türkischsprachigen Studis zusammen wohnen. Dass in den meistens Unis auf Englisch unterrichtet wird, hilft in dem Fall auch nicht weiter.
Die Sprache ist der erste Schritt in eine Kultur. Wer eine Sprache lernen will, muss sprechen, soviel wie möglich, mit Leuten auf der Straße, beim Einkaufen, mit dem Busfahrer. Das ist meistens aufs höchste unterhaltsam und manchmal auch frustrierend. Nach 9 Monaten in Istanbul, verstehe ich oft in Gesprächen noch immer nicht mehr als die Hälfte und kann noch keine Zeitung lesen, aber zumindest Zusammenhänge nachvollziehen und mich ausreichend verständigen. Je besser ich die Sprache beherrsche, desto tiefer dringe ich in die Kultur, in das Leben, desto mehr Informationen gehen mir ins Netz. Das motiviert zum Weitermachen. Ein anderer Erasmus-Student, den ich kenne, und der, wie ich im letzten Wintersemester in die Bosporus-Metropole kam, hat es bis heute nicht geschafft "Tschüss" auf Türkisch zu lernen. Dafür hat er eine Menge Spaß in seiner internationalen Wohngemeinschaft, den vielen Partys und sagt, dass er wieder zurückkommen wolle, denn er habe hier "die Zeit seines Lebens" gehabt.
Am Ende des ersten Semesters, als die meisten der Erasmus-Studenten der Yeditepe Universität wieder in ihre Heimat zurückgingen, veranstalteten ein paar von ihnen eine Abschiedsparty. Das Event war als eine Art Misses and Mister Whatever ausgelegt. Alle Erasmus-Studenten wurden dazu aufgerufen, ihre Favoriten in unter anderem folgenden Kategorien wie diese zu wählen: Absent "I never see you around", Fashion "When you walk, everyone says: Wooooooooow", Cool "Yeah man, I'm pissing ice cubes", Patriotic "In my country...", Wise "What was first, the chicken or the egg?", Altruistic "Are you OK???", Sexy-hothot "Ooops!You are burning, baby!" Ich habe, wie bei den meisten Erasmus-Partys durch meine Abwesenheit geglänzt, hätte aber persönlich noch einen Vorschlag für eine andere Kategorie gehabt: No brain, no pain "I do not know anything about the life in Istanbul but at least I had the best time of my life".
Lest hier den ersten Teil von Harikas Erasmus-Porträt!