Entre les murs: Klassen-Kampf in vier Wänden
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Die filmische Sozialstudie des französischen Regisseurs Laurent Cantet räumt Preise ab und mit dem Multikulti-Traum auf.
„Wenn Du nur auch mal so intelligente Dinge in Dein Heft schreiben könntest, wie Du Dir auf den Arm tätowiert hast“, kontert Monsieur Marin. Vor dem schlagfertigen Lehrer in den Dreißigern lungern auf kreuz und quer im Raum verteilten Schulbänken Desinteresse vortäuschende, Kaugummi kauende, pubertierende Schüler namens Esméralda, Wei oder Souleymane. Rosafarbene Kringelohringe, Zahnspangen, Bling-Bling-Ketten oder Zidane sind Themen, die bewegen. Passé Simple, Anne Frank oder Selbstporträt? „Das benutzt ja nicht mal mehr ihr Großvater“, spöttelt Khoumba und deutet mit dem Finger auf seine Mitschülerin.
Willkommen am Collège Françoise Dolto im 20. Arrondissement, einem im Osten von Paris gelegenen Viertel. Die Problemschule ist Schauplatz von Laurent Cantets (Vers le Sud) dokumentarisch angehauchtem Filmwerk Entre les murs ('Zwischen den Wänden'; deutscher Titel: Die Klasse), der die Palme d’Or beim diesjährigen Festival von Cannes abgestaubt und in Frankreich eine die Gemüter erregende Debatte um Integration und das Modell der republikanischen Schule ausgelöst hat. Auch für den Oscar im Februar 2009 ist der Streifen bereits nominiert. « Wirklich ein magischer Film » hatte der amerikanische Schauspieler Sean Penn, der dieses Jahr die Cannes-Crew anführte, nach der Festival-Premiere die Auswahl der Jury begründet.
Ungeschminkter Schulalltag
Doch Entre les murs ist alles andere als Magie; François Bégaudeau, ehemaliger Lehrer und Punkrocker, der den gleichnamigen Roman verfasste und sich im Film nun selbst verkörpert, alles andere als ein Magier. Cantets Film wirkt an Stellen gähnend lang - doch auch der tägliche Kampf im Klassenzimmer kann langwierig sein. Entre les murs ist andererseits mitreißend komisch in seinen Pingpong-Dialogen. Dann wieder zum Haareraufen. Kuschelpädagogik oder Taktstock? Bégaudeau und Cantet predigen keine Patentrezepte - die wären in der lebhaften Multikulti-Klasse wohl auch völlig fehl am Platz. Auf keinen Fall will der Film spektakulär sein. Aufsehen erregt er trotzdem.
Der Schulalltag und die Lehrer-Schüler-Tiraden wirken täuschend echt. Für den Film fanden bereits ab 2006 wöchentliche Improvisationsateliers im Pariser Collège statt, an denen sowohl Schüler als auch Lehrer teilnehmen konnten. Mit der Zeit bildeten sich Charaktere wie der vorlaute Sprücheklopfer Souleymane, der im wirklichen Leben Franck heißt und eher schüchtern ist, heraus, die den kruden Charme des Films ausmachen.
Geplatzter Traum Multikulti-Schule?
Dass Themen wie Integration oder auch Gewalt an Schulen längst im europäischen Alltag angekommen sind, zeigt sich neben Cantets Kinofilm auch am Beispiel anderer Länder. Die niederländische Journalistin Margalith Kleijwegt beispielsweise sorgte mit ihrem Bestseller Schaut endlich hin in ihrem Heimatland für Furore. Ein Jahr lang recherchierte sie für ihr Buch an einer Problemschule in Amsterdam. 2006 schrieben die Lehrer der Rütli-Schule im Berliner Viertel Neukölln, die 80 Prozent Schüler mit Migrationshintergrund zählt, einen öffentlichen Brief, da sie die Gewaltexzesse an ihrer Schule nicht mehr ertrugen.
Lehrer sind auch nur Menschen? Geplatzter Multikulti-Traum am Beispiel Schule? Integration beginnt in den vier Wänden eines Klassenraums? Was Cantets Entre les murs auf eine ganz einfache und banale Art und Weise zu zeigen vermag, ist, dass es in Europa Lehrer gibt, die jeden Tag aufs Neue versuchen Esméralda, Souleymane und Khoumba zu erklären, was Worte wie „Intuition“ bedeuten; auf der anderen Seite aber, dass es Schüler gibt, die von sich selbst aus Platons Republik lesen. Und wiederum andere, die am Ende eines Schuljahres feststellen, dass sie nichts - wirklich rein gar nichts gelernt haben.
Kinostart in Europa: Frankreich - seit 24. September 2008; Italien - seit 10. Oktober 2008; Portugal - 30. Oktober 2008; Niederlande - 27. November 2008; Spanien - 9. Januar 2009; Deutschland - 15. Januar 2009