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Eine Stadt voll guter Gedanken

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In Tartu befindet sich die prestigeträchtigste Universität Estlands. 424 ausländische Studenten besuchen derzeit die Alma Mater, darunter 40 Deutsche.

Ein wenig überrascht war Anina Trautermann schon, als sie zum ersten Mal die Tartuer Hochschule betrat. "Ich hatte gedacht, ich sei eine Exotin, weil ich zum Studium nach Estland gehe", erzählt die 25-jährige Studentin der Allgemeinen Sprachwissenschaft, "aber dann habe ich hier sehr viele Deutsche getroffen, die die gleiche Idee hatten."

Tatsächlich sind es gerade mal 40 deutsche Studenten, die zurzeit wie die Kielerin die Tartuer Alma Mater besuchen, und viele Kommilitonen daheim halten diese Wahl durchaus für exotisch. Wer entscheidet sich schon für ein kleines Land hoch im Norden, das gerade einmal 1,4 Millionen Einwohner hat und dessen Sprache nirgendwo sonst auf der Welt verbreitet ist? Doch die blonde Studentin hatte gute Gründe, das nordbaltische Land vorzuziehen. "Im Rahmen meines Studiums sollte ich eine nicht indogermanische Sprache lernen, deshalb habe ich Estnisch gewählt. Außerdem kommt meine Schwägerin aus Estland und hat mir viel von ihrer Heimat erzählt", sagt sie.

Ideale Studienbedingungen

Auch Jakob Quirin, ein 22-jähriger Jurastudent aus Potsdam, der bereits zwei Semester an der Tartuer Universität studiert, ist mit seiner Wahl zufrieden. Nicht nur die Tatsache, dass Estland sich nach dem Erlangen der Unabhängigkeit in den 90er Jahre sich stark am deutschen Recht orientiert hat, hat ihn zu seiner Entscheidung bewogen. "Irgendwie erscheint mir Estland abenteuerlicher als andere Länder", meint er und erzählt, dass er auf einer Wanderung schon vor Wölfen und Bären gewarnt worden sei, die in den estnischen Wäldern noch häufig anzutreffen seien. Lediglich den langen Winter hatte er vor seiner Ankunft gefürchtet.

Anina hatte ähnliche Befürchtungen. "Aber dem Klischee, dass es hier um diese Jahreszeit den ganzen Tag über dunkel ist, muss ich widersprechen. Zu Hause sind die Tage im Winter und Frühjahr auch nicht länger", resümiert sie und nippt an einer Tasse warmen Tee. In ihren Augen ist Tartu eine moderne, europäische Stadt, von grauer Tristesse oder gar Sowjetmief keine Spur. Im Gegenteil, viele der 424 ausländischen Studenten, die in diesem Semester in Tartu studieren, finden hier ideale Gegebenheiten. "Die Betreuung an der Uni ist super", schwärmt Anina. "Die Seminargruppen sind klein, die Dozenten motiviert und das Angebot an englischsprachigen Kursen groß." Und wo sonst in Europa kostet ein großes Bier nur 1,50 Euro?

Europäische Tradition

Die meisten ausländischen Studenten sind in einem modernen Wohnheim untergekommen, das seinen Bewohnern Internetzugang bietet und nur wenige hundert Meter von Innenstadt und Universität entfernt liegt. Dort wohnen auch Hannah Sigge und ihr Kommilitone Christian Droste, zwei Studenten der Kulturwissenschaft aus Lüneburg, die ein Semester lang an der Tartuer Alma Mater studieren. Die beiden haben ein Angebot gewählt, das speziell für ausländische Studenten angelegt wurde: Baltic Studies, ein Landeskunde, Politik und europäische Entwicklung umfassender Studiengang.

"Am meisten hat mich erstaunt, dass es hier so europäisch ist, ja, dass so gar nichts an die Sowjetzeit erinnert", sagt die 22-jährige Hannah Sigge über das Land, das Jahrhunderte lang in Händen fremder Mächte war und erst seit 15 Jahren selbstständig ist. Im Gegenteil, viele Tartuer fühlten sich Westeuropa und vor allem Deutschland eng verbunden. Das gilt auch für die Universität, die in einer kleinen Straße gleich hinter dem Rathaus liegt.

1632 von Schwedenkönig Gustav Adolf II. gegründet, gehörte sie nach einem Machtwechsel in Estland lange Zeit zum Russischen Reich. Dennoch wurde in dem imposanten weißen Gebäude, das von sechs toskanischen Säulen geziert wird, bis Ende des 19. Jahrhunderts in deutscher Sprache gelehrt. Die russischen Zaren wollten so die Europäisierung ihres Landes vorantreiben.

Studentische Rituale

Heute besuchen über 18.000 junge Leute, fast ein Fünftel der Tartuer Einwohner, die Hochschule. "Die Uni liegt nicht nur im Zentrum der Stadt, sie ist das Zentrum der Stadt", sagt Christian Droste. Als vor einigen Jahren ein Brunnen vor dem Rathaus aufgestellt werden sollte, fiel die Entscheidung schnell auf einen Entwurf, der ein sich küssendes Studentenpaar darstellt.

Ein paar Schritte weiter, am anderen Ende des Platzes führt eine Bogenbrücke zu dem Wohnheim, in dem Christian Droste und die anderen untergekommen sind. Zu Semesteranfang kann man oft Studenten beobachten, die nachts versuchen, über den rund sechs Meter hohen, geschwungenen Bogen der Brücke zu balancieren. Nur eines von zahlreichen studentischen Ritualen. Jakob Quirin ist schon ein alter Fuchs, was das angeht. Zwei Mal ist er bereits über den rund ein Meter breiten Bogen der Brücke geschritten. "So schlimm wie es von unten aussehen mag, ist es nun wirklich nicht." Hannah Sigge und Christian Droste wollen bald auch Mut beweisen und den Gang über das Betonkonstrukt wagen. "Schließlich", erklärt Sigge mit einem Lächeln, "will ich doch eine richtige Tartuer Studentin sein."

Die Autorin ist Mitglied des Korrespondenten-Netzes n-ost