Ein Tag in Paris mit den Flüchtlingen von La Chapelle
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Katha KlossFrankreich hat unter Emmanuel Macron gerade sein Asylgesetz verschärft - nach deutschem Vorbild. Es ist ein Gesetzesentwurf, der den Asyl suchenden Flüchtlingen im Land das Leben nicht erleichtern wird. An der Pariser Porte de la Chapelle, wo Flüchtlinge trotz mehrerer Räumungsaktionen weiterhin campen, habe ich mir die französische Willkommenskultur näher angesehen.
Für unsere neue Reihe YoTambién nehmen wir die fünf Themen des Yo!Fest @EYE2018, Europas größtes Politik-Festival von und für junge Leute, genauer unter die Lupe. Heute nehmen wir uns das Thema 'Überleben in turbulenten Zeiten' vor:
Es ist 8 Uhr 30 am frühen Morgen. Einige Helfer treffen sich am Esplanade Nathalie Sarraute, um den Flüchtlingen, die nachts in der Nähe der Porte de la Chapelle schlafen, eine der Auffahrten zum Pariser Stadtring im 18. Arrondissement, Frühstück zu servieren. In ein paar Stunden wird dieser Ort vollkommen anders aussehen. Denn normalerweise ist der Pariser Norden Treffpunkt für eine trendige Stadtbevölkerung und die Bar Les Petites Gouttes klappt die Liegestühle in Erwartung des abendlichen DJ-Sets aus, bevor eine Horder junger, attraktiver Menschen sich auf ihnen niederlassen. Es gibt Berber-Teppiche, Spielkonsolen und Fotoautomaten, um den Moment festzuhalten - perfekt für einen gechillten Pariser Abend.
Das Ende der verfickten Welt
Ich bin heute mit Samir* (Name von der Redaktion geändert) unterwegs. Der syrische Geschichtslehrer kam im September 2016 nach Paris. Zusammen mit ihm will ich den heutigen Tag verbringen, um die verschiedenen Flüchtlingsunterkünfte im Norden der französischen Hauptstadt zu besuchen. Samir war Lehrer in Deraa (im äußersten Südwesten des Landes), bevor er seine Heimat Syrien Ende 2012 verlässt, um vier Jahre später in Frankreich anzukommen.
Samir is immer noch erschrocken, dass so viele Menschen in den Straßen von Paris übernachten müssen. Deshalb verbringt er seine Zeit jetzt viel damit, Neuankömmlingen zuzuhören und zu helfen. Das Sozialgefüge zwischen der französischen Regierung und den Flüchtlingen sei Samir zufolge komplett gebrochen. „Nur neue Sozialprogramme können diese Probleme aus der Welt räumen. Die Flüchtlinge müssen sich den Franzosen öffnen, und die Regierung könnte versuchen, Menschen besser zu integrieren, indem sie ihre kulturelle Identität besser berücksichtigt“, meint er. Für Samir ist es vor allem die moralische und finanzielle Unterstützung, die zählt. Weil die Spaltung meistens auf unterbliebene Unterstützung zurückzuführen ist. „Wir müssen sie als Menschen betrachten, nicht nur als Flüchtlinge. Die Menschen haben das Gefühl, dass man sie fallen lässt. Und das provoziert eben dieses ständige Schamgefühl und vertieft gesellschaftliche Gräben.“
Samir winkt mir zu, ich soll ihm auf die andere Seite folgen. An einer Wand steht ein Tisch, auf dem eine Hand voll Freiwillige eifrig Thermoskannen und Plastikbecher auspacken. Der Verein Quartiers Solidaires stellt hier jeden Morgen vor dem Sportzentrum Michèle Ostermeyer Tee, Kaffee, Schokoladenaufstrich, Papiertaschentücher, warme Kleidung und Decken zur Verfügung. Eine Gruppe von Flüchtlingen geht behände auf den Stand zu. „Heute sind es fünfzehn. Aber vor nicht allzu langer Zeit waren es manchmal zweihundert.“
Benoit Alavoine, mit Baskenmütze und rotem Schal, sorgt für die Verteilung und fragt sich: „Warum kommen die bloß immer noch hierher? Es ist bald Ramadan. Sie müssten es eigentlich nicht, aber machen es trotzdem. Viele sind jetzt in La Villette [im Osten von Paris; AdR], im neuen Flüchtlingslager, dort leben um die 2000 Menschen“, erklärt Benoit. Seit der Schließung der Unterkunft in La Chapelle am vergangenen 30. März mussten die Flüchtlinge einen neuen Schlafplatz finden. Und das, obwohl man eigentlich versprochen hatte, passende alternative Strukturen vorzuschlagen.
Um 9 Uhr 30 verlassen die Freiwilligen die Halle, viele müssen jetzt zur Arbeit. Ich beschließe, zusammen mit Samir weiter Lebensmittel und Decken zu verteilen und schmiere Brote. Dabei versuche ich mit dem ein oder anderen Flüchtling ins Gespräch zu kommen. Die meisten stammen aus Eritrea oder dem Sudan.
Einige Tage zuvor war ich bei der Schließung des Zentrums Porte de la Chapelle. Der gemeinnützige Verein Emmaüs und die Pariser Stadtverwaltung, die den Ort bis dahin geleitet hatten, erklärten zu diesem Zeitpunkt, dass für den Übergang fünf Einrichtungen in der Region Paris zur Verfügung gestellt würden. Beim Datum allerdings blieb man eher vage. Rund um die Flüchtlingsunterkunft gab es natürlich ordentlich Anspannung. Eine syrische Familie lehnte an einem Baum. Vor dem Eingang überwachte ein Sicherheitsbeamter die Lage. Es war unmöglich, ohne Unterkunftsbescheinigung Zugang zu bekommen.
Allerdings gab es da ein kleines Grüppchen gegenüber, für das scheinbar eine Ausnahme gemacht wurde und die das Gebäude problemlos betreten konnte. Unter ihnen erkannte ich den jungen Schauspieler Alex Lawther, Protagonist der Serie The End of the F*** World. Er sollte an einer Aufführung in der sogenannten ‘Bulle’ teilnehmen, einem improvisierten Kuppelbau, der zwischenzeitlich für Performances in der Nachbarschaft aufgebaut wurde.
Hier bringt der britische Verein Good Chance Theatre Pariser und Flüchtlinge rund um eine wöchentliche Aufführung namens ‘Hope Show’ zusammen. Ghadir Abbas, ein 22-jähriger Iraker, der seit 24 Tagen im Zentrum ist, ist einer der wenigen Menschen, die nach der Schließung der Einrichtung eine Unterkunft gefunden haben. „Ich wurde vorübergehend in ein Hotel in Argenteuil gebracht. Dort lebe ich mit einem anderen irakischen Flüchtling“, erklärt er und zeigt auf seinen Freund, der mittlerweile im Rollstuhl sitzt. Nachdem er mehrere Familienmitglieder in Auseinandersetzungen mit dem sogenannten IS verloren hatte, beschloss der junge Mann aus Bagdad, sein Heimatland Irak zu verlassen. „Ich habe mein ganzes Leben im Dunkeln gelebt“, sagt er, seine Arme sind voller Narben.
Wie 90% der Männer, die zur Erstaufnahme in La Chapelle untergebracht wurden, ist auch er durch die Dublin-II-Verordnung gezwungen, in dem europäischen Land Asyl zu beantragen, in dem er zum ersten Mal offiziell registriert wurde. Ghadir musste seine digitalen Fingerabdrücke zum ersten mal in Finnland machen. Nur dass das Land anschließend fünf Mal seinen Asylantrag abgelehnt hatte. „Sie haben mir gesagt, dass der Irak heute sicher ist und ich dorthin zurückkehren muss.“ Das hat er daraufhin auch getan. Bevor er sich erneut nach Frankreich aufmachte.
Entkommenskultur
2016 hatten in Europa noch 1,5 Millionen Menschen Asyl beantragt. Im Jahr darauf wurden nur noch die Hälfte Asylanträge in der Europäischen Union registriert (ca. 650 000). Die Tendenz ist demnach rückläufig. Und trotzdem - aufgrund seines bürokratischen Charakters steht besonders Artikel 15 des Dublin-Abkommens in der Kritik. Yann Manzi, Mitbegründer von Utopia 56, einer großen Vereinsstruktur Porte de la Chapelle, die sich dank Freiwilliger für die Unterbringung von Flüchtlingen stark macht, kennt die Methoden.
Sein Verein, der mehr als 6000 Mitglieder zählt, prangert eine Politik der „Aussortierung und Ausweisung“ an, weshalb sich seine Struktur schlussendlich aus dem Zentrum zurückgezogen habe. Manzi zufolge handele es sich dabei um eine „negative Einmischung“ seitens des Staates, um Migranten abzuschrecken. „Frankreich und Europa tun alles, um diese Menschen davon abzuhalten zu kommen“, übersetzt er die inexistente Willkommenskultur im Frankreich von Emmanuel Macron. „Wenn wir diese Leute nicht willkommen heißen, dann ist das eine klare Botschaft. Und die Migranten in Frankreich machen ganze 0,7% der Bevölkerung aus. Es ist also völlig klar, dass es sich dabei in erster Linie um ein politisches Problem handelt“, kritisiert Yann Manzi und verweist auf verstärkt populistische Tendenzen in Europa.
In Manzis Worten spiegelt sich die Wut vieler Verbände über den neuen Gesetzesentwurf ‘Asyl und Einwanderung’ von Innenminister Gérard Colomb. Am 22. April hatte die Nationalversammlung den Entwurf bereits nach der ersten Fassung angenommen: mit Hilfe des neuen Gesetzes sollen die Bearbeitungszeiten für Asylanträge verkürzt und die Abschiebungen an die Grenze effektiver organisiert werden. Eine Wahrnehmung von Einwanderung, die in Frankreich viel Kontroverse auslöst. Denn die Migrationspolitik der Regierung Macron ähnelt zunehmend dem Ideenfundus des Front National. „Das ist noch nie dagewesen. Mit diesem neuen Gesetz, das gerade auf den Weg gebracht wird, hat die Regierung das Recht, auch ‘dublinierte’ Personen einzusperren“, sagt der Freiwillige über die Abschiebungsfrist, die mit dem Gesetz von 45 auf 90 Tage steigen würde. Wenn ein Flüchtling auf seine Rechte besteht, wahrscheinlich sogar noch länger.
Inzwischen geht es zusammen mit Samir zurück in Richtung Boulevard de la Villette. Er möchte, dass ich den berühmten ‘Gehweg der Schande’ vor der Anlaufstelle von France Terre d’Asile sehe. Der Verein kümmert sich hier um die Aufnahme von Asylsuchenden. Mehrere provisorische Zelte säumen den Bürgersteig. Um Zugang zu den Räumlichkeiten zu erhalten, schlafen die Flüchtlinge an Ort und Stelle, manchmal mehrere Nächte hintereinander. „Solange der Zugang zu den Unterkünften so kompliziert bleibt, wird es auch Flüchtlinge in den Straßen von Paris geben“, sagt Pierre Henry, Vorsitzender der Anlaufstelle.
Solidarität, Rangeleien, Taliban
Ahmet* (Name von der Redaktion geändert), ein 20-jähriger Afghane, lebt seit zehn Tagen in einem Zelt, das er sich mit einem Freund teilt. Beide Männer mussten Afghanistan aufgrund der Taliban verlassen. Seine Familie hatte Ahmet gesagt, er solle Kabul 2015 schnellstens verlassen. Seine Odyssee führte ihn durch den Iran, die Türkei, den Jemen, Mazedonien, Ungarn und schlussendlich nach Schweden, wo er in einem Flüchtlingsheim der schwedischen Einwanderungsbehörde unterkommt. Die Erfahrung sollte jedoch nicht von Dauer sein. Denn Ahmet erleidet das gleiche Schicksal wie Ghadir und wird ausgewiesen. „Die Prüfung des Asylantrags fand alle drei Monate statt. Und trotz der Erstaufnahme hat man mir schließlich gesagt, dass ich nach Afghanistan zurückkehren müsse, weil es dort nun keine Taliban mehr gebe und die Gefahr somit gebannt sei“, erinnert er sich. Ahmet macht sich anschließend auf den Weg nach Deutschland und landet in einem 2000-Mann-Lager in Hamburg. Dort trifft er Fazil* (Name von der Redaktion geändert), den afghanischen Freund, mit dem er sich bis heute ein Zelt teilt.
Die beiden Männer wissen nicht, dass sie bald in ein anderes Aufnahmezentrum, Boulevard Ney, ‘umziehen’ müssen. „Wahrscheinlich Anfang Mai“, bestätigt Pierre Henry von France Terre d’Asile. Es sei eine unangemessene Lösung, sagt er weiter. „Ich wiederhole das jetzt schon seit über einem Jahr. Wir brauchen ein national organisiertes Empfangssystem mit verschiedenen Aufnahmezentren in allen regionalen Hauptstädten.“ Aber mit jedem Tag, den man länger wartet, verschlechtern sich die Gesundheits- und Sicherheitsbedingungen für Asylsuchende in Frankreich.
„Letzte Nacht gab es auch Rangeleien“, sagt Ahmet. „Flüchtlinge aus einem anderen Lager haben uns angegriffen. Die Polizei war da und hat nichts unternommen.“ Das Thema ist den Bewohnern bekannt, sie bedauern dieses Klima der Gewalt und der schlechten Lebensbedingungen in ihrem Viertel. Ahmet sagt, viele Bewohner seien freundlich, sie bringen regelmäßig Decken und Essen. Aber für ihn ist die Situation nicht mehr lange tragbar, er hat andere Pläne. „Ich möchte zurück zur Schule gehen. Ich möchte lernen und arbeiten. Um eine Wohnung kümmere ich mich später.“
Der Tag neigt sich dem Ende zu und ich bemerke, dass mein ‘Fremdenführer’ Samir, unser syrischer Expat und auch eine Art Schutzengel, hier in der Nachbarschaft ziemlich bekannt ist. In der Mittagspause kam ein Mann auf ihn zu, und erklärte ihm seine persönliche Geschichte. Samir sagt, zwischenmenschliche Beziehungen seien das einzig Wichtige. Nur über ein „Netzwerk von Freunden“, so vertraut er mir an, sei auch er damals an einen Job und seine Unterkunft gekommen.
Zum Ende danke ich Samir, dass er mir seine Zeit geschenkt hat, und mache mich wieder auf zur nahegelegenen U-Bahnstation Jaurès. Für die Zeit einer Station bietet die Metro, die hier im Norden über der Erde fährt, einen atemberaubenden Blick auf den Boulevard. In der Ferne erspähe ich den Canal de l’Ourcq und die Terrasse der bekannten Pariser Bar Point Éphémère. Davor befindet sich ein Meer an bunten Zelten. In der Bar fangen die Pariser gerade an zu tanzen.
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Cafébabel ist Medienpartner des Yo!Fest, das jährliche Jugend-Festival des European Youth Forum, auf dem politische Debatten, Workshops, Musik und Performance zusammenkommen. 2018 wird das Festival erneut vom European Youth Event - EYE2018 im Europaparlament in Straßburg stattfinden. Das #EYE2018 bitet über 8000 jungen Menschen die einzigartige Gelegenheit, ihrer Stimme Gehör zu verschaffen und gemeinsam an einer Vision für Europa zu tüfteln. Diese Reihe nimmt die fünf Schlüsselthemen des Festivals unter die Lupe: Mithalten mit der digitalen Revolution, Überleben in turbulenten Zeiten, Fitmachen für ein stärkeres Europa, Unseren Planeten schützen und Faire Teilhabe fordern. Folgt dem EYE und dem Yo!Fest auf Social Media.
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Translated from Réfugiés : ma journée dans les campements parisiens