“Ein Monster”: Max Richter über Woolf, Worte und Visionen
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Katha KlossMax Richter ist ein Chamäleon der Neo-Klassik und einer der größten zeitgenössischen Komponisten elektronischer Musik. Das Werk des in Hameln geborenen Briten umfasst so unterschiedliche Themen wie die Vier Jahreszeiten von Vivaldi, Soundtracks zu Scorsese und Black Mirror, Kafka mit Tilda Swinton und ein 8-stündiges Schlaflied. Sein aktuelles Projekt ist eine Hommage an Virginia Woolf.
cafébabel: Max Richter, wie erklären Sie einem Kind, was Sie beruflich machen?
Max Richter: Ich denke mir Lieder aus und schreibe sie auf.
cafébabel: Sie haben gerade Ihr neuestes Projekt Three Worlds: Music from Virginia Woolf Works veröffentlicht. Warum sollte jeder in seinen Zwanzigern Virginia Woolf lesen?
Max Richter: Virginia Woolf entstammt der Frühmoderne mit ihren völlig neuen Formen und Sprache. Sie ist eine Schriftstellerin voller Inspiration, die neue Welten erfindet und neue Wege, diese zu sehen. Eine Begegnung mit derartigen Werken ist immer eine Inspiration - ordentlich durchgeschüttelt zu werden und seine eigenen Ansichten zu hinterfragen und diese anziehende alternative Realität präsentiert zu bekommen.
cafébabel: Sie sagen, Ihr Blick auf Woolf habe sich über die Jahre verändert, inwiefern?
Max Richter: Eines der größten Vergnügen an Literatur ist, dass sie dir einen unentwegten Spiegel vorhält. Wenn man ein Buch zum ersten Mal liest, hat man eine gewisse Perspektive und Erinnerung, eine besondere Beziehung zum Text. Und wenn man Jahre danach erneut auf das Buch stößt, wie es bei mir der Fall war, als ich das Ballett und das neue Album komponiert habe, scheint es plötzlich anders als in der Erinnerung. Aber das Buch hat sich nicht verändert. Und das ist eine spannende Erfahrung.
cafébabel: Das Komponieren Ihres 8-stündigen Schlafliedes sei einfacher gewesen als die Arbeit an den drei Woolf-Romanen (Mrs. Dalloway, Orlando, The Waves). Stimmt das?
Max Richter: Auf bestimmte Art und Weise stimmt das, ja. Aber ich habe mit Sleep auch ein bisschen getrickst. Denn an Sleep hatte ich bereits 20 Jahre lang gearbeitet. Das Werk war ziemlich weitläufig. Natürlich ist die Arbeit an einem Ballett – das Original dauert länger als zwei Stunden, das Album nur eine Stunde – eine weitaus komplettere Geschichte: es gibt Orchesterstimmen, elektronische Elemente, Vocals und alle Art von digitalem Zeug, es ist ein Monster, das alles in perfekten Einklang zu bringen.
cafébabel: Wie kommt man konkret vom Text zum Ton?
Max Richter: Die Eröffnungsszene von Orlando beispielsweise heißt ‘Modular Astronomy’. Orlando ist ein Roman der Metamorposen. Es handelt sich um eine ziemlich lange Biographie, in der eine der Figuren über 400 Jahre lebt, durch alle Art Abenteuer geht, darunter auch die Wanderung von einem Geschlecht zum anderen. Und es ist ein sehr spielerisches Werk, fast ein bisschen wie ein Science Fiction Roman. Das Bild der Verwandlung war mein Anknüpfungspunkt für die Musik von Orlando. Ich habe dann die bekannte Weise La Folía – ein spanisches Lied aus dem 16. Jahrhundert – verwendet und mich eher auf dieses historische Objekt und nicht auf die Hauptfigur des Romans gestützt. Ich habe also die harmonische Sprache dieses Materials aus dem 16. Jahrhundert genommen, sie in analoge Sequenzen umgewandelt und aus diesen dann Patterns gemacht. Diese Patterns wiederum habe ich dann herausgefiltert, einen Score daraus gemacht, den das Orchester eingespielt hat. Diese Aufnahme wurde dann auf die digitale Ebene übertragen – und das ergibt schlussendlich den Sound, den wir heute auf dem Album haben. Das Originalmaterial La Folía wurde durch all diese unterschiedlichen Prozesse umgestaltet, auch durch historische Prozesse, um die Biographie der Figur aus Orlando zu spiegeln.
Kritiker behaupten, es gebe Ähnlichkeiten zwischen Three Worlds und Philip Glass' Soundtrack zu The Hours (2001)
cafébabel: Sie haben literarische Werke (Woolf, Kafka), klassische Musik (Vivaldis Vier Jahreszeiten) neu adaptiert und Soundtracks für Film und TV (u.a. Scorsese, Black Mirror) komponiert - wie verändert sich der Prozess des Komponierens mit dem Genre?
Max Richter: Das sind komplett unterschiedliche Prozesse. Natürlich ist Musik innerhalb eines Projekts für Kino oder Serien nur ein Teil der Geschichte, und kann nicht den kompletten Raum einnehmen. Die Musik muss mit anderen Elementen kommunizieren oder sie stützen – man gibt einem hybriden Werk quasi musikalischen Input. Auch beim Ballett ist das der Fall, da es sich dabei ebenfalls um ein hybrides Werk aus Bewegung, Licht und Musik handelt – all diese Dinge kommen darin zusammen. Im Fall eines Konzertstückes oder CD-Projekts nimmt Musik den ganzen Platz ein.
cafébabel: Kafka schrieb auf Deutsch, Woolf auf Englisch: Welche Rolle spielt Sprache für Sie beim Komponieren und nimmt sie Einfluss im Erschließen der unterschiedlichen Gefühlswelten?
Max Richter: Ich habe Kafka gelesen, als ich jung war, das muss so ungefähr zum gleichen Moment gewesen sein wie Virginia Woolf. Sprache hat für mich eine große Bedeutung, ich lese sehr viel. Neben dem Komponieren ist das ein wesentlicher Zeitvertreib für mich. Musik ist auch eine Sprache, gleichzeitig vage und sehr präzise. Ich selbst spreche ein recht einfaches Deutsch, aber die Sprache, in der ich mich am besten ausdrücken kann, ist Englisch. Ich bin in Großbritannien groß geworden und zur Schule gegangen. Und das hatte natürlich Einfluss auf meine Musikkultur, auch wenn ich in Italien mit [Luciano] Berio klassische Musik studiert habe, die natürlich der deutschen Musikkultur verhaftet ist.
Max Richter - The Consolations of Philosophy, Saison 3 Black Mirror
cafébabel: Sie haben in Edinburgh, London und Italien studiert: welchen Einfluss nimmt dieses Unterwegssein auf ihre Kompositionen?
Max Richter: Das weiß ich nicht, ich habe keine alternative Biographie, mit der ich vergleichen könnte. Das ist also schwer zu sagen. Aber ich denke, dass ich so etwas wie eine wahrhaftig europäische Perspektive habe – ich denke nicht, dass Berlin, Edinburgh oder London einen regionalen Einfluss auf meine Arbeit ausgeübt haben. Musik funktioniert nicht auf diese Art und Weise. Musik findet in deinem Kopf statt, es ist nicht dasselbe wie für Maler oder Fotografen, die eine gewisse Umgebung für ihre Arbeit benötigen. Musik sprengt die Grenzen. Eines der schönsten Dinge an Musik ist, dass sie Sprachbarrieren überkommen kann, das ist das Magische daran. Sie ermöglicht Menschen, sich zu unterhalten, obwohl sie die Sprache des Anderen nicht beherrschen. Das hat etwas sehr Inspirierendes. Ich selbst fühle mich als Europäer. Ich habe die letzten acht Jahre in Berlin gelebt. Jetzt lebe ich wieder in Großbritannien, ich habe in Italien gelebt, eigentlich überall. Für mich ist Europa ganz einfach da, wo ich lebe.
cafébabel: Und gefällt Ihnen das Europa, in dem wir heute leben?
Max Richter: Wenn ich Europa sage, dann geht es dabei um eine kulturelle Ausrichtung, die mit Literatur, Kunst und Musik zu tun hat. Die Menschen fragen mich oft, ob ich für Zivilisation sei. Und ich sage dann meistens, Zivilisation sei eine gute Idee. Europa ist ein wunderbares Beispiel dafür, was passieren kann, wenn man Zivilisation ermöglicht, sich zu entwickeln. Wir haben einen Kontinent, der im Kriegszustand war und nun aber seit mehr als 60 jahren in Frieden lebt – das ist ein Wunder und sollte gefeiert werden.
cafébabel: Sehen Sie unsere Zivilisation in Gefahr?
Max Richter: Ja (lacht). Ich meine, wir haben da diese schwarze Komödie namens Brexit. Ich kann kaum darüber sprechen, so schlimm finde ich das. Und dann sind da natürlich viele andere Herausforderungen, die mit dem technischen Wandel und dessen Einfluss auf Arbeitsmarkt und Wirtschaft zu tun haben. Hinzu kommt diese gewaltige Unausgeglichenheit in der Vermögensverteilung, nicht nur in Europa, sondern weltweit. Wir haben riesengroße Baustellen vor uns. Wir können nur auf kreative und sehr aufmerksame Menschen hoffen, die effektive neue Wege vorwärts vorschlagen.
cafébabel: Shutter Island, Waltz with Bashir oder Die Fremde: Ihre Auswahl an Projekten ist meistens politisch motiviert. Möchten Sie mit ihren Arbeiten politischen Wandel bewirken?
Max Richter: Ja, auf gewisse Art schon. Der Ausgangspunkt für The Blue Notebooks war beispielsweise die Ausgangslage vor dem Irak-Krieg. Es gibt immer derartige Ausgangspunkte für meine Arbeit. Wir leben in einer Gesellschaft unter Menschen, es ist natürlich, dass wir in Dialog treten wollen.
cafébabel: Wie wählen Sie ihre Projekte aus?
Max Richter: Es ist ein Mix. Leute sprechen mich mit Projekten an, was Glück und ein echtes Privileg ist. Und manchmal mache ich eigene Projekte, an denen ich Jahre gearbeitet habe. Sleep zum Beispiel. Ich habe schon in den Neunzigern angefangen, darüber nachzudenken und es dann schlussendlich [2015] fertig gebracht.
cafébabel: Gibt es Orte, an denen Sie noch träumen Ihre Musik zu spielen?
Max Richter: Ich hatte Glück und konnte bereits an wundervollen Orten auftreten. Ich erinnere mich, dass ich als Kind immer das Opernhaus in Sydney im Fernsehen bewundert habe – und 40 Jahre später habe ich dort ein Konzert gespielt. Das sind einzigartige Erlebnisse, die manchmal etwas fast Magisches an sich haben. Fast wie ein Traumland. Reisen inspiriert mich, du weißt nie so richtig, was auf dich zukommt. Ich gebe die Hoffnung auf Überraschung nie auf.
cafébabel: Warum komponieren Sie weiter auf Papier?
Max Richter: Ich schreibe auf Papier, weil ich die Erfahrung liebe, mir etwas auszudenken. Und wenn du auf Papier komponierst, stellst du dir die Musik vor, bevor du sie hörst. Wenn man direkt am Computer arbeitet, fühlt es sich fast ein bisschen so an, als wäre man im Publikum. Du komponierst etwas, du drückst auf Play, du hörst es dir an.
cafébabel: Max Richter, welchen Tipp haben Sie für junge Komponisten?
Max Richter: Der Schlüssel ist, zu versuchen herauszufinden, was Einzigartiges in einem steckt, was nur du machen kannst oder fühlst. Jeder Mensch ist einzigartig - wir alle haben ein technisches Handwerk, unsere Vorstellungskraft und unsere Biographie.
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Max Richter - Three Worlds: Music from Virginia Woolf Works; Label: Deutsche Grammophon; Januar 2017
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Max Richter präsentiert SLEEP am 6. Mai in London und am 15. Juli in Amsterdam.
Translated from Max Richter on words, vision and Virginia Woolf