Ein Buch mit vielen Wurzeln
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Ein Messer, das über Bewusstsein verfügt, und ein totgeglaubter Freund, der vielleicht gar nicht tot ist: Der Roman Tendrils erzählt mit Liebe zum skurillen Detail von den großen Themen des Lebens. Traum und Realität liegen bei Licy Duggans Debutroman eng beisammen.
Als Lucy Duggan und ich uns 2011 in Straßburg kennenlernten, dachte ich zuerst, sie sei Französin. Nach zehn Minuten, in denen Lucy von ihrem Hostelbett aus verwirrt auf mich herunterblickte und ich einfach immer weiter Französisch vor mich hin brabbelte, klärte sich das Missverständnis auf – Lucy war Britin und noch dazu eine, die sehr gut Deutsch sprach. Kein Wunder, denn Sprache ist Lucys Leidenschaft. In einem Interview, das ich für Die Euros mit ihr führte, sagte sie: „Ich mag die Idee, Sprachen ein wenig miteinander zu mixen.“ Nun hat Lucy ihren ersten Roman Tendrils (Peer Press) veröffentlicht und was als erstes auffällt, ist – natürlich – die Sprache. Lebendig, poetisch. Wunderschön und berührend.
Die Stadt als Schicksal
„Tendrils“ bedeutet so viel wie „Ranken“ oder „Ringellocken“. Das passt, denn tatsächlich sind die verschiedenen Erzählstränge so kunstvoll miteinander verwoben, dass sie sich erst nach und nach entwirren lassen und der Kern der Erzählung zum Vorschein kommt. Aber was ist er denn, dieser Kern? Da wäre zunächst einmal die Geschichte der Künstler Ochre und Tomáš. Einst waren sie beste Freunde, wohnten und arbeiteten zusammen im vorrevolutionären Prag – Tomáš stets der Handelnde von Beiden, politisch aktiv und wagemutig, bewundert von dem etwas passiven Ochre. Doch diese Zeiten sind lange vorbei, Tomáš hat sich von einer Brücke gestürzt. Ochre, nun in seinen Vierzigern, lebt weiter in Prag, lässt sich treiben in diesem Leben, welches immer noch das eines typischen Bohemiens ist: „He would live there in the swirl and flicker of endless puppet shows, and in the romance of ancient stories. The city was his fate, it was part of him and it was someone he was always searching for.” Doch eines Tages beginnt sich Ochres Wahrnehmung zu verschieben, seltsame Dinge geschehen – und Ochre ist plötzlich sicher, dass Tomàš gar nicht tot ist. Stück für Stück setzt er die wahre Geschichte hinter dem Verschwinden seines Freundes zusammen.
Der zweite Handlungsstrang erzählt von den beiden Freundinnen Zuzana (Zuzi) und Alena, die auf dem Land im Mähren (Morawien) aufwachsen. Jung und hoffnungsvoll denken sie, nichts könnte sie trennen. Und doch trennt sie bald so viel, wie sie es sich nie hätten vorstellen können. Während es die künstlerisch begabte Zuzi in die Welt – genauer: nach München – hinauszieht, träumt Alena vom Leben in einem kleinen Häuschen zusammen mit ihrem Freund. Oder tut sie das überhaupt? Und warum kreist ihr Denken ständig um Zuzi?
Kampf um Selbstbestimmung
Die beiden Geschichten scheinen parallel zu verlaufen, keine Berührungspunkte zu haben. Doch Schicht für Schicht entsteht ein Gesamtgebilde, eine Erzählung, bei der sich Realität und Fiktion stellenweise nicht unterscheiden lassen, ineinander übergehen, verschmelzen. Manchmal scheint es, als würde von einer fantastischen Welt berichtet, die zwar so aussieht und sich so anfühlt wie unsere – aber kleine Details lassen doch daran zweifeln. Eine Geschichte, die auf auf bis dahin unbeschriebenen Seiten erscheint. Eine geheimnisvolle Frau. Ein Messer, welches über Bewusstsein verfügt.
Die Themen, die Lucy in Tendrils behandelt, sind die großen Themen des Lebens: Freundschaft, Liebe, die Suche nach dem eigenen Ich. Das könnte schnell banal werden, wenn Lucy nicht die wunderbare Eigenschaft hätte, aus vermeintlich banalen Dingen Augenblicke voll poetischer Zärtlichkeit zu machen. Wenn Alena Zuzi das lockige Haar kämmt, klingt das so: „Zuzi’s hair is a forest, ancient, where the trees have grown the way they like, where birds nest like tiny stars in the treetops, where a polecat hisses, and wolves…“. Ganz behutsam, fast unbemerkt zunächst, kreist Tendrils auch um das Thema Emanzipation. Insbesondere Zuzi führt einen Kampf um Selbstbestimmung, darum, nicht mehr die Projektion der Sehnsüchte Anderer zu sein. Selber zu malen, statt gemalt zu werden. Alena sagt zu ihr: „There’s something about you which can’t be softened. (…) Something which can’t be smoothed out with brush strokes.” Erzählt wird gleichzeitig die Geschichte der Emanzipation eines Landes: Tschechien. Ochre und Tomàš haben die „Samtene Revolution“ 1989 erlebt, waren Teil davon. Zuzi und Alena hingegen wuchsen im post-sowjetischen Tschechien auf – unberührt von der Vergangenheit sind sie jedoch nicht.
Tausend Versionen des Ichs
Ihren Freund fragt Alena: „Haven’t you ever wanted to feel a connection, the thought that your story has happened somewhere else, with variations… The thought that there could be a thousand versions of you, living in parallel, stories sometimes crossing…”. Tendrils lässt daran glauben, dass es solche Parallelrealitäten gibt. Dass Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft eins sind. Und dass es sich lohnt, so lange weiterzumachen, bis auch die letzten Ranken und Locken entwirrt, vorsichtig voneinander getrennt sind – und den Blick freigeben auf das, was vorher im Dickicht verborgen lag.
Lucy Duggan: Tendrils, Peer Press, 559 Seiten, ca. 16 Euro, mit Original-Illustrationen von Jitka Palmer.
Lucy schreibt regelmäßig sehr kurze Kurzgeschichten: http://www.tinystori.es/