Ein Besuch im FKK-Bistro in Paris
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Im Pariser Bistro O’Naturel wollen Mike und Stéphane ihre Gäste dazu bringen, die Hüllen fallen zu lassen: und wieder ihr nacktes Selbst zu sein. Ein Selbstversuch.
Zumindest die Kellner sind angezogen. Gesundheitsvorschriften erlauben nichts anderes. Das wusste ich bereits, als ich an den schwarz-verkleideten Fenstern des O’Naturel vorbei ging, um zu klingeln. Die Tür bleibt aus Gründen der Privatsphäre geschlossen. Was ich nicht wusste, war praktisch alles andere. ‘Was wäre, wenn?‘ Fragen hatten das Gespräch mit meinem Date Amelia geprägt. Bei einem Apéro in der Bar um die Ecke hatten wir uns kichernd über den anstehenden Bistrobesuch unterhalten.
Amelia fragte: „Und wenn ich mich mit etwas Heißem bekleckere?“
Ich fragte mich: „Und wenn ich auf die Toilette muss?“ Als der Kellner kam, bestellte ich absichtlich kein Bier, sondern Whisky - nicht mal on the rocks.
Dann fragte sie nervös: „Und wenn dort nur alte geile Säcke sitzen, die mich angaffen?“
Und wenn nicht? - dachte ich insgeheim. Was wäre wenn… Doch bevor mein Gedankenspiel im Kopf so richtig losging, beendete ich es auch schon wieder.
O’Naturel ist das erste FKK-Restaurant in Paris. Es liegt in einer unauffälligen Seitenstraße im 12. Arrondissement – zufälligerweise nicht weit vom Bois de Vincennes entfernt, der selbst für einige Schlagzeilen sorgte, nachdem die Pariser Stadtverwaltung dort während des Sommers einen FKK-Bereich genehmigte.
Nachdem er meinen Namen auf der Gästeliste überprüft hat, zeigt uns Mike Saada den Weg zum ‚vestiaire‘ - die Umkleide befindet sich hinter einem dicken grauen Vorhang auf der linken Seite des kleinen Eingangsbereichs. In der Umkleide stehen wir einer Wand von Schließfächern gegenüber. Neben dem Holzboden stechen vor allem die Hausregeln ins Auge. Hier geht es vorwiegend um Respekt gegenüber den anderen Restaurantgästen. Nacktheit, ein aufgeführter Punkt, ist nach dem zweiten Vorhang, der in den Restaurantbereich führt, ein absolutes Muss.
Vor dem Restaurantbesuch war ich noch voller Tatendrang gewesen. Nun, im Angesicht der nackten Wahrheit, ist von diesem Gefühl nicht mehr viel übrig. Die Socken hebe ich mir bis zum Schluss auf, langsam ziehe ich auch diese aus. In meiner nackten Blöße trete ich durch den Vorhang ins Unbekannte.
Nackt und allein
Das Restaurant ist leer. Die Wände und die Decke weiß, mit ovalen kreisförmigen Lampen, die ein kkühles Licht auf die grauen Tische und Stühle warfen. Die Stühle sind mit schwarzen, austauschbaren Hüllen bedeckt (die nach jedem Abendessen ausgetauscht werden, so wurde uns versichert). Es ist geradezu grell und der Raum fühlt sich fast so nackt an, wie wir selbst.
Wir sind allein.
Als ich durch den Vorhang trete, bemerke ich schnell, dass kein anderer nackter Gast im Restaurant sitzt, um mich in meiner vollen Pracht zu betrachten. Ich fühle eine unerwartete Mischung aus Erleichterung und Enttäuschung. Und setze mich.
Eine Journalistin der Radiostation France Inter steht am andere Ende des Raums, im Gespräch mit den Angestellten. Sie ist angezogen. Erfreut endlich jemanden interviewen zu können, kommt sie direkt an unseren Tisch, als wir uns setzen.
„Ich bin auch Journalist. Und bin ebenfalls hier, um das Restaurant zu testen“, sage ich zu ihr, als sie uns frage, wie wir uns fühlen. Ich frage mich, wie oft Journalisten am Ende andere Journalisten interviewen. Sie ist leicht perplex und bittet uns lediglich unsere Vornamen zu nennen.
Wir bestellen Wein, zwei Gläser Crozes-Hermitage Jahrgang 2014. Die Journalistin von France Inter bleibt an unserem Tisch stehen und streckt ein Mikrophon aus, um den Klang des Weins aufzunehmen, der in das Glas fließt.
„Dein Freund hat sich quasi sofort mit seiner Serviette bedeckt, als er sich hinsetzte. Fühlst du dich unwohl hier?“, fragt sie Amelia.
„Es ist seltsam, dass wir die Einzigen hier sind. Der Rest der Anwesenden ist bekleidet“, antwortet Amelia und sich bezieht sich dabei auf die Küchenangestellten und die zwei Brüder und Gründer des Lokals, die nun als Kellner auftreten.
Die Journalistin lässt uns allein, um mit Stéphane zu sprechen. Ihre Worte verlieren sich im Raum und erreichen unsere Ohren. „Ich bleibe angezogen, weil ich mich nicht wohl in meinem Körper fühle.“ Einige Minuten später: „Die Gäste scheinen sich nicht wohl zu fühlen. Ist das normal? Oder ist das etwas, an dem Sie arbeiten sollten?“
Mike kommt mit den Menüs an unseren Tisch. Ich werfe einen Blick zum Tisch der Journalistin, bevor ich mit meinen eigenen Fragen loslege. Das Restaurant – kategorisiert als ‚bistronomy‘ (gehobenes Bistro) – bietet zwei unterschiedliche Menüs an. Beide haben einen Fixpreis. Entweder ein 2-Gang-Menü mit der Wahl zwischen Vorspeise oder Nachtisch und dem Hauptgang für 39€, oder ein 3-Gang-Menü für 49€. Als Vorspeise bestelle ich anstatt der Weinbergschnecken, Hummersalat oder mariniertem Lachs, ein osteuropäisches Erbsenpüree ‚baba ganoush‘ mit Gemüsebeilage. Amelia wählt eine Stopfleber mit Apfel-Chutney und Meersalzflocken.
Wir bestellen auch gleich den Hauptgang. Erneut entscheide ich mich gegen die Fischoption; Endivien-Tatin mit Jakobsmuscheln und einer Sojabohnensoße. Ich bin immerhin nackt. Ich will Fleisch. Ich wähle Lammkotlett mit getrockneten Tomaten und Silberzwiebeln. Amelia bestellt die Jakobsmuscheln.
Mike ist nicht der Meinung, dass der Nudismus des Restaurants Einfluss auf das Essen hat. Eigentlich, so erzählt er uns, waren weder er noch sein Bruder überzeugte Naturisten. Wie sich herausstellte, waren auch die anderen Mitarbeiter nicht unbedingt überzeugte Anhänger der FKK-Philosophie, obwohl jeder Bewerber während des Einstellungsprozesses ordnungsgemäß über die Einzigartigkeit des Restaurants informiert wurde.
„Wir wollten ein Gastro-Bistro eröffnen“, sagte er. „Aber es gibt so viele in Paris, also haben wir uns darüber Gedanken gemacht, was uns auszeichnen könnte – wie wir herausstechen könnten. So entstand die Idee des FKK-Restaurants.“
Ich bin etwas enttäuscht von der kalten, harten Wahrheit. War meine erste Erfahrung einfach alles naturbelassen, so wie Gott mich schuf, zu zeigen, tatsächlich nur ein kommerzieller Gag gewesen?
Europa und Nudismus
Es gibt einen unmittelbaren Kontrast in der Idee eines Restaurants für Nackte. Wir kommen nackt auf die Welt und sind völlig hilflos - doch diese Existenz ist meist nur von kurzer Dauer. Kein anderes Lebewesen versucht, seinen Körper vor der Sicht anderer zu verbergen; kein anderes Lebewesen benutzt Feuer, um Nahrung verdaulicher und schmackhafter zu machen. Errungenschaften wie Kleidung und Kochen haben es uns erlaubt, den Planeten und seine große Vielfalt an Landschaften und Klimazonen zu erobern. Können wir also über Nacktheit oder Essen oder beides sprechen, ohne darüber zu sprechen, was es bedeutet, ein Mensch zu sein?
Die Idee, dass die menschliche Form verborgen bleiben muss, gefiel nicht allen. In Europa kam es zu einer Gegenreaktion: Dies zeigt sich beispielsweise in der Renaissance der Nacktheit der französischen und italienischen Skulpturen, oder der Unverschämtheit von Courbets L'Origine du monde. Nach dem Ersten Weltkrieg wurden FKK-Camps in Deutschland und Frankreich populärer und zogen eine bunte Mischung aus Sozialisten, Pazifisten und Pseudo-Hippies an.
Diese Camps zogen jedoch den Zorn der Nazis auf sich, die in den 1930er Jahren an die Macht kamen. Hermann Göring, der sich schließlich in Nürnberg vor Gericht verantworten musste, bezeichnete die sogenannte Nacktheit als „eine der größten Gefahren für die deutsche Kultur und Moral“. Obwohl er 1933 in Deutschland verboten wurde, breitete sich der Naturismus über den Ärmelkanal und in den Vereinigten Staaten aus. Diese Bewegung wurde teilweise durch einen Zustrom deutscher Emigranten angespornt.
Fleisch auf dem Stuhl, Fleisch auf dem Teller
Als die Vorspeisen kommen, bin ich beeindruckt von ihrer dekonstruierten Natur. Als ob das Essen, wie die Gäste, auf das Wesentliche reduziert und so schmucklos wie möglich aus der Küche geschickt worden sei. Mein Gemüse: Karotten, Radieschen, Gurken und Fenchel; liegt schamlos roh um ein paar Blätter Baby-Spinat herum, darauf platziert die gekochten und pürierten Zucchini. Sie knackten frisch unter meinen Zähnen, aber in einer kaum erwähnenswerten Art und Weise.
Auf der anderen Tischseite muss Amelia den Arm heben, um ihre Gabel zu greifen. Dieser lag bisher schützend über ihren nackten Brüsten. Während sie dies tat, wirft sie einen Blick Richtung Küche. Dort steht der Koch und betrachtet sie mit einem lüsternen Blick. Erst nach einiger Zeit lässt er mit dem Blick von ihr ab und dreht sich um. Ich kann in ihrem Gesicht ablesen, dass sie einen plötzlichen Moment der Empathie für die Stopfleber auf ihrem Teller spürt. Schließlich beginnt sie, das angerichtete Essen mit dem Messer zu zerteilen: ein Stück Brot mit Stopfleber und Cranberry-Topping verschwindet in ihrem Mund.
In ihren Augen blitzt eine Idee auf: Ein Stück Fleisch auf dem Stuhl, ein Stück Fleisch auf dem Teller.
Halbzeit der Vorspeise, zwei weitere Gäste betreten das Restaurant. Die Zahl der nackten Menschen verdoppelt sich schlagartig. Mike erzählt uns, dass er und Stéphane über das Profil ihrer Klientel überrascht waren. Natürlich gab es die traditionellen und tatsächlichen Naturisten, aber auch eine Zahl an neugierigen Firsttimers. Die Alterspanne liegt meist zwischen 30 und 35 Jahren.
Christophe und Seth, die sich neben uns an einen Tisch setzen, sind beide in ihren frühen 30ern. Christophe ist Franzose und Seth stammt aus Los Angeles; ihre Anwesenheit führt zu einer spürbaren Veränderung der Atmosphäre. Wir hatten endlich nackte Menschen als Verstärkung. Die zwei Welten, eine bekleidet, eine unbekleidet, standen weiterhin in einer seltsamen Wechselwirkung zueinander, aber es fühlt sich jetzt ausgeglichener an.
Seth erzählt uns, dass dies das erste Mal seit fünf Jahren sei, dass er etwas ‚Nacktes‘ mache. Seine erste Erfahrung machte er auf einer "Circuit Party": das sei das erste Mal gewesen, dass er gemeinsam mit anderen Leuten völlig nackt gewesen war. Wir schauen ihn beide fragend an und veranlassen ihn somit etwas genauer zu erklären.
"Eine ‚Circuit Party‘ ist eine Tanzveranstaltung, die die ganze Nacht und bis in den nächsten Tag hinein dauert. Sie kamen erstmals in den 70ern auf und erleben gerade ein Revival in der Schwulenszene. Ein bisschen wie das Berghain", sagt er und bezieht sich auf den berühmt-berüchtigten Berliner Club.
Die Ankunft meiner Lammkoteletts und Amelias Jakobsmuscheln unterbrechen unser Gespräch. Drei Fleischstücke sind in einem Halbkreis auf dem Teller angeordnet, umgeben von einem Sud aus gerösteten Zwiebeln.
Marketing-Gag oder nicht, wenn Sie beschließen, ein Restaurant zu eröffnen, in dem alle Gäste nackt sind, wird das der Hauptfokus. Es überschattet zwangsläufig das Essen und verlangt von der Küche einen außergewöhnlichen Ausgleich. Das Essen muss schreien, schau mich an, nicht deinen Nebensitzer oder die da drüben! Du musst dich so sehr in dem Gefühl des Geschmacks verlieren, dass deine Augen aufhören zu beobachten. Jedes Gericht muss überwältigend, fesselnd, eine Offenbarung sein. Diese Art von Herausforderung könnte dem Einfallsvermögen eines guten Kochs eine übernatürliche Menge an Kreativität bescheren, die bereit ist, jede Grenze zu überschreiten, um eine Umgebung zu zähmen, die selbst die natürlichsten Grenzen überwunden hat.
O'Naturel ist nichts davon. Das Lamm war weich und der Geschmack saftig. Die Jakobsmuscheln verschmolzen gut mit dem Meer von Sojabohnenpüree, in das sie gelegt wurden. Aber es gab kein Crescendo des auffälligen Geschmacks. Die Speisekarte ist nicht annähernd so gewagt wie das Konzept: Gänseleber, Jakobsmuscheln, Schnecken, Hummer, Lammkotelett, geschmortes Hühnchen und das obligatorische vegetarische Risotto ist eine Liste von Bistro-Standard-Gerichten. Keines von ihnen ist wesentlich besser als anderswo in Paris. Das ist für das klassische Eck-Bistro auch völlig in Ordnung, aber das verlangt eben auch nur den halben Preis. Und außerdem ist das Eck-Bistro beruhigend und komfortabel - nicht befremdlich.
Wir blieben bei unserem ursprünglichen Plan und beschließen, nicht für den Nachtisch zu bleiben. Mental bereit zu zahlen, schiebe ich meine Hand dorthin, wo meine Hosentasche - und mein Geldbeutel - hätte sein sollen, und fühle nur die Glätte meines Oberschenkels. Ich bemerke, dass ich in den letzten anderthalb Stunden nicht ein einziges Mal mein Handy überprüft habe. Ich stehe auf und gehe an den anderen Tischen vorbei in die Umkleide, fühle mich dabei wohler, als ich es mir in meiner eigenen Haut vorgestellt hatte, aber dann doch wesentlich bequemer, als ich meine Kleidung wieder anhabe. Draußen wartet ein Pariser Winterabend, der uns mit Schneeflocken begrüßt.
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Dieser Artikel ist von Alexander Hurst für das europäische Storytelling-Kollektiv Are We Europe entstanden.
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Translated from O'Naturel: Naked dinner in a Parisian bistro