Drei Türkei-Visionen
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Realismus, Idealismus oder Opportunismus? Drei Positionen in der Türkeifrage dominierten die Konferenz „Europa und seine Grenzen“ auf Schloss Genshagen bei Berlin – und verrieten viel über die Europa-Vision des jeweiligen Sprechers.
Die EU stehe vor der Frage, ob Sie die Türkei als außenpolitischen Verbündeten binden oder als innenpolitischen Akteur aufnehmen wolle, so Robert Badinter, französischer Senator und Justizminister von 1981 bis 1986. Er bezog sich auf die von Andrew Moravscik in „The Choice for Europe“ ausgearbeitete realistische Perspektive. Demnach sind Nationalstaaten auch künftig die wirkungsmächtigsten Akteure. Ihre Entscheidungen orientierten sie vor allem an ökonomischen Kalkülen. Eine Trennung von Außen- und Innenpolitik sei weiterhin möglich.
Realismus und die Irrelevanz von Walter Hallstein
Badinter bevorzugt die Türkei als außenpolitischen Partner, nicht als EU-Mitglied: Der Beitritt würde die EU in Regionalkonflikte des Kaukasus verwickeln – zusätzlich zu wahrscheinlichen Problemen an den künftigen Außengrenzen mit Iran, Irak und Syrien. Bisherige Zusagen seien kein zwingender Grund für die Aufnahme. Das oft zitierte Versprechen des Kommissionspräsidenten Walter Hallstein von 1963 habe – wie alle folgenden Zusagen – keine vertragliche Qualität. Auch musste die Türkei nicht Zwangskommunismus und russische Unterdrückung erfahren, wie die am 1. Mai beigetretenen Staaten Mittel- und Osteuropas. Menschenrechte und Demokratisierung ließ Badinter ebenfalls nicht gelten: Als Mitglied im Europarat sei die Türkei ohnehin auf diese Normen verpflichtet. Und eindeutige Hinweise auf ökonomische Vorteile eines Beitritts gebe es nicht. Folglich auch kein „realistisches“ Argument für die Aufnahme.
Idealismus und das kosmopolitische Europa
In Opposition zu Badinter argumentierte Gesine Schwan auf der Basis einer idealistischen Vision von Europa, offensichtlich inspiriert durch Werke von Ulrich Beck wie „Kosmopolitisches Europa“. Die Trennung von Innen- und Außenpolitik sei ein Anachronismus, die Distanzierung von Problemen durch Verweigerung von Beitrittsgesuchen eine Illusion. Weil die EU nicht auf militärische Dominanz gründe, brauche sie den häufig befürchteten Untergang durch Überdehnung nicht zu fürchten. Im Gegenteil: Durch Ausweitung würden schwierige Konflikte in die EU verlagert, und könnten dort mit dem erprobten Instrumentarium gelöst werden: „Es ist für Europa besser, sich durch innere Konflikte herauszufordern, als durch äußere Konflikte herausgefordert zu werden.“ Auf diese Weise könne Europa global als Vorbild für friedliche regionale Kooperation fungieren.
Opportunismus und sibirisches Öl
Als Vertreter der opportunistischen Position argumentierte der ehemalige französische Premierminister Michel Rocard. Lange Zeit glühender Verfechter der „Vereinigten Staaten von Europa“ hat Rocard seine föderale Vision zu Gunsten eines „European Regulatory State“ aufgegeben, wie er von Giandomenico Majone beschrieben wurde. Danach ist Europa lediglich ein Rechtsraum für Politik à la carte, ohne übergeordnetes Leitbild, von der Rechtstaatlichkeit mal abgesehen. Angesichts dieses Minimalkonzeptes fiel es Rocard natürlich leicht, für einen Türkei-Beitritt zu argumentieren, aus wirtschaftlichen Gründen: Im Kaukasus gebe es fünf bis sechs erdölfördernde und zugleich türkischsprachige Länder. Mit einem Beitritt würde sich die EU den Zugang zu diesen Vorkommen sichern. Und langfristig stehe die Ausbeutung der sibirischen Ölfelder an. Falls europäische Unternehmen dort gegenüber den aus geographischen Gründen dominanten japanischen und chinesischen Gesellschaften bestehen wollten, dann sei ein gesicherter Transportweg durch den Kaukasus von unschätzbarem Wert. Leider gingen diese Aspekte in der aktuellen Debatte völlig unter, weil es Politikern und Journalisten an strategischer Weitsicht fehle: „Man sollte sich daran gewöhnen, 50 Jahre vorauszuschauen. Unter einem Horizont von 20 Jahren haben geopolitische Reflexion überhaupt keinen Sinn.“
Das Schweigen der Eurogeneration
Entgegen der Empfehlung von Rocard schauten zahlreiche Teilnehmer in Genshagen häufig nicht fünfzig Jahre voraus, sondern mindestens fünfzig Jahre zurück. Das ist verständlich: Einen eventuellen Beitritt der Türkei wird die Mehrzahl der Diskutanten nicht erleben, aus biologischen Gründen. Die politischen Optionen und Restriktionen der heutigen Schüler und Studenten wird er jedoch massiv beeinflussen. Trotzdem herrschten auf der Konferenz japanische Zustände: Dem Senioritätsprinzip folgend war die in den offenen Debatten gewährte Redezeit umso länger, je mehr graue Haare und Lebensjahre ein Sprecher in die Waagschale werfen konnte. Diese Logik gilt es aufzubrechen: Lassen wir nicht die Elder Statesmen über unsere politische Zukunft entscheiden. Ergreifen wir das Wort, auch wenn es uns nicht gegeben wird!