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Documenta: Im Netzwerk der Kunst

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Default profile picture anika kloss

Kultur

Ein Rundgang auf Deutschlands wichtigster Ausstellung für zeitgenössische Kunst zeigt: die zwölfte Documenta will Fragen stellen und Netze zwischen zeitgenössischer Kunst und Betrachter spannen.

Seit 1955 wird die Documenta alle 5 Jahre, für 100 Tage zu einer der weltweit beachtetsten Kunstausstellungen und ist mittlerweile, laut der Veranstalter, zu einem "verbindlichen Seismografen der zeitgenössischen Kunst avanciert". Im Gegensatz zur Biennale in Venedig geht es auf der Documenta aber nicht um die Präsentation der "besten KünstlerInnen der Welt". "Worum es für mich geht, ist den Leuten die Sicherheit zu geben, dass sie auch ohne große Vorbildung in eine Betrachtung einsteigen können, weil sie die wesentlichen Ressourcen, um Kunst zu verstehen in sich tragen", sagt Kurator Buergel.

Ist die Moderne unsere Antike? Was ist das bloße Leben? Was tun?, lauten 2007 die drei Leitmotive. "Es ist kein Zufall, dass diese Leitmotive als Fragen formuliert sind, schließlich machen wir die Ausstellung, um etwas herauszufinden", ist auf der Webseite der Documenta zu lesen. Subjektivität und Selbstrefklektion stehen im Mittelpunkt. Das wird dem Besucher gleich im Foyer klar gemacht. Ein goldener Monolith des Künstlers John McCracken präsentiert sich in einem verspiegelten Raum, in dem man sich selbst in der Unendlichkeit betrachten kann.

Von Stoffen, Seilen und Netzen

Stoffe und Seile begegnen dem Auge des Betrachters auf dem gesamten Ausstellungsareal. Besonders eindrucksvoll ist die Skulptur And tell him of my pain der indischen Bildhauerin Sheela Gowda. Durch 89 Nadeln hat die Künstlerin Hundert Meter lange Fäden gezogen, verdreht und mit Gummi arabicum - als Bindemittel für rotes Kurkuma - umhüllt und eingefärbt. Gewürzkultur in Indien, traditionelle Frauenhandarbeit und Geburtserfahrung, aber auch der Wandel der indischen Textilindustrie, die Bedeutung der Farbe Rot für den Hinduismus und die Darstellung von Schmerz, sind Themen, die diese Arbeit ansprechen.

Eine Etage tiefer findet die Tanzperformance Floor of the forest der Amerikanerin Trisha Brown statt. An einem Gerüst, an dem durch Seile Kleidungsstücke befestigt sind, tauchen Tänzer in Textile ein, verschmelzen mit Stoffen. Parallel dazu kann man Hito Steyerls Videoinstallation Lovely Andrea sehen, die sich dem Seil über das Thema Bondage und Fesselung nähert.

(Foto: Katrin Schilling/documenta GmbH)

Über derartige "Familienähnlichkeiten" spannt sich das Netz der Documenta auf. Das Seil, mit dem hier gerade ein Mädchen gefesselt wird, dient dort einer Tanzperformance und erinnert ebenso an die blutrote Kordel der Künstlerin Sheela Gowda. Diese "imaginären Korrespondenzen", Wiederholungen und Überschneidungen durchweben die gesamte Ausstellung. Die Kunstwerke scheinen miteinander verflochten.

Stille und Dunkelheit versus Video und Digitalkamera

"Christian, wir gehen runter – hier gibt’s nur Videos", sagt eine Frau entnervt zu ihrem Gatten. Doch gerade die Videos Enquete sur le/notre dehors von Alejandra Riera verschlagen dem Zuschauer die Sprache. Unauffällig in einer dunklen Ecke platziert, zeigt die 240-minütige Projektion Dialoge, bei denen Grenzen zwischen Schauspiel und Dokumentation verschwimmen. Eine Theatergruppe, die sich aus psychisch Kranken, Therapeuten, Schauspielern und Philosophen zusammensetzt wirft Fragen von poetischer Schönheit und trauriger Realität in den stillen Raum. Zwischen psychischem Wahn und prophetischer Weisheit lauscht man Sätzen wie "Schade, dass es die Verrücktheit gibt. Es ist die Fachkenntnis der Welt." Dann raucht der Kopf.

In der Neuen Galerie ist es leerer. Hier sieht man durch eine riesige Glasfläche ein Video des Iren James Coleman - aber man hört nichts. Hinter der Scheibe, in der man sich spiegelt, findet man, was einem auf der Documenta sonst kaum begegnet – Ruhe. In einem weiten, dunklen Raum, der an einen Kinosaal ohne Sitze erinnert, setze ich mich. Handydisplays leuchten in der Dunkelheit auf.Auf der übergroßen Leinwand beginnt Retake with Evidence, ein einsamer Monolog vor minimaler, kalter Kulisse, großartig vorgetragen von Harvey Keitel. "Why are you here?", bricht Keitel mit der Stille.

James Coleman: Retake with Evidence, 2007, Performed by Harvey Keitel

Warum bin ich hier? Was ist das bloße Leben? Ein Mann, der eben den Raum betreten hat, ist zweifellos zum Schlafen hier, während Keitel desillusioniert Endzeitstimmung verbreitet. Vor monochromen, endlosem Hintergrund ohne Horizont, ein unbekanntes Gegenüber anklagend, fühle ich mich an das Gemälde Mönch am Meer von Caspar David Friedrich erinnert. Der Schläfer beginnt zu schnarchen. Ich bewerfe ihn mit Traubenzucker, was ihn nicht abhält weiterzuschnarchen. Auch ein Mann mit Digitalkamera hat hergefunden. Er setzt sich nicht, sondern macht für 20 Sekunden des 25-minütigen Videos Fotos einer Leinwand, die er nicht betrachtet. Dann – meditative Stille. Die endlose Schleife beginnt von neuem. "Why are you here?", fühlt man sich in der Dunkelheit angesprochen und für einen Moment ins Spiegelfoyer zurückversetzt.

documenta 12/ Kassel

Vom 16.06. bis 23.09.2007 täglich 10 - 20 Uhr

Museum Fridericianum, documenta-Halle, Aue-Pavillon und Neue Galerie

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