Die Zukunft der Visegrad-Gruppe
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henriette rytzSteht die Visegrad-Kooperation nach NATO- und EU-Beitritt vor ihrem Aus oder gibt es noch gemeinsame Ziele und Aufgaben?
Kritiker argumentieren, dass es für eine enge Kooperation zwischen den Visegrad-Ländern (Ungarn, Tschechien, Slowakei und Polen) keinen Anlass mehr gibt. Alle Länder haben erreicht, was sie wollten: Sie sind Mitglieder der OECD, des Europarats, der WTO, der NATO und der Europäischen Union. Also "Arbeit erledigt, Feierabend"? Eine solche Haltung baut auf der Annahme, internationale Beziehungen seien statisch. Dies ist jedoch nicht der Fall; die Lage der Welt und des internationalen Systems ist einem ständigen Wandel unterworfen. So strebten die mitteleuropäischen Staaten danach, einer NATO des Kalten Kriegs beizutreten, die eine "Kalte-Kriegs-Sicherheit" garantieren würde, und Mitglied einer Europäischen Gemeinschaft zu werden, die wirtschaftliches Wachstum garantieren würde. Nun sind sie Mitglieder einer "neuen" NATO sowie einer EU auf der Suche nach einer neuen Identität und Daseinsberechtigung. Auch die Wahrnehmung in Fragen der Sicherheit hat sich gewandelt. Heute sind nicht mehr die Sowjets die Hauptbedrohung, sondern der Terrorismus, den die NATO mit vielen Schwierigkeiten bekämpft. Die EU bereitet derzeit die vierte Revision der Gemeinschaftsverträge seit 1990 vor mit dem Ziel, die Kooperation über den Bereich der Wirtschaft auf Bereiche wie Außen- und Sicherheitspolitik auszudehnen.
Gemeinsame Erfahrungen, gemeinsame Interessen
Die Visegrad-Staaten sollten daher ihre Kooperation fortsetzen. Jedoch müssen die Ziele neu definiert werden. Sie werden nicht mehr so eindeutig wie das erste "Join the West"-Motto sein. Es wird ein kontinuierlicher und häufig monotoner Prozess der Kooperation sein, um bestimmte institutionelle und finanzielle Strukturen der EU zu übernehmen: Alle Visegrad-Staaten möchten Mitglieder der Euro-Zone und des Schengen-Raums werden. Alle möchten ihre Steuern weiterhin selbst erheben und hier keine Kompetenzen an die EU abgeben. Alle streben nach engen Beziehungen zwischen Europa und der USA. Alle haben besondere Interessen in der Region, die früher die Sowjetunion umfasste.
Desweiteren bedeutet ihre einzigartige gemeinsame jüngste Geschichte, dass alle den Menschenrechten einen besonderen Stellenwert einräumen oder in naher Zukunft einräumen werden. Die vier sind der lebende Beweis dafür, dass eine erfolgreiche friedliche "Refolution" möglich ist (um Garton Ashs Konzept einer Kombination von Revolution und Reform zu verwenden). Die Botschaft an die Welt ist einfach: Schafft eure totalitären Regime ab, führt Demokratie ein, haltet sie in Ehren und haltet fest an ihr, respektiert die Menschenrechte, transformiert eure Wirtschaftssysteme, glaubt an und investiert in euch selbst. Nur dann könnt ihr Erfolg haben.
Natürlich ist enge Kooperation keineswegs gleichbedeutend mit uniformen Verhalten; die vier müssen sich nicht bei jedem Thema einig sein. Wie andere europäische Beispiele enger Kooperation zeigen, vertreten Staaten manchmal fundamental verschiedene Meinungen, jedoch beeinträchtigt das nicht ihre Kooperation. Nehmen wir beispielsweise die nordischen Staaten: Norwegen und Island sind keine Mitglieder der Europäischen Union. Finnland ist das einzige nordische Mitglied der Euro-Zone. Lediglich Dänemark, Island und Norwegen sind Mitglieder der NATO, während Schweden und Finnland neutral sind. Nichtsdestotrotz sind Norwegen und Island dem Schengen-Abkommen beigetreten – dank der Unterstützung der nordischen EU-Staaten.
Diese Überlegungen könnten und sollten auch in Bezug auf die Visegrad-Kooperation in Betracht gezogen werden. Alle Visegrad-Staaten außer Polen haben ein klares Interesse an Fragen, die den Donau-Raum betreffen, Polen wiederum ist engagiert in der Ostseeregion. Ungarn, die Slowakei und die Tschechische Republik werden als kleine bzw. mittlere Länder innerhalb der EU betrachtet, wohingegen Polen als eines der großen EU-Länder gesehen werden möchte. Die jüngsten Meinungsverschiedenheiten bezüglich des Irak oder der europäischen Verfassung sollten jedoch nicht den Erfolg oder Mißerfolg des Projektes diktieren. In der Tschechischen Republik, der Slowakei und in Ungarn gibt es Ängste, der nördliche Nachbar könne sich zu stark an andere große EU-Länder anlehnen. Andererseits befürchtet Polen, dass die drei anderen Visegrad-Staaten näher zusammenrücken und sich außerdem Österreich annähern und so ein Österreich-Ungarn des 19. Jahrhunderts wieder auferstehen lassen.
Zusammenarbeit
Was kann also getan werden, um die Kooperation zwischen den Visegrad-Staaten zu verbessern? Zu allererst sollte die Kooperation auf einem sozialen – und nicht bloß auf einem intergouvernementalen – Level stattfinden. Der Kontakt zwischen NROs, Jugendgruppen, Schulen usw. sollte gefördert werden. Die Regierungen sollten außerdem über ein „Mini-Schengen“ nachdenken, das ihre vier Länder untereinander verbindet, so lange sie noch nicht dem „großen“ Schengen-Abkommen beigetreten sind.
Zweitens sollten die Staaten ihre Positionen zu allen Themen und auf allen Ebenen abstimmen, besonders im Vorfeld der Europäischen Ratstreffen. Die Visegrad-Staaten können insofern einen großen Einfluss ausüben, als dass sie zusammen mehr Stimmen im Rat haben als Deutschland und Frankreich zusammen. Wenn sie wissen, was sie wollen, und wenn sie zusammenhalten, wird ihre Verhandlungsposition viel stärker sein.
Die Regierungen sollten außerdem gemeinsame jährliche Sitzungen abhalten und außerdem auch die Gründung besonderer Visegrad-Kommissionen in den nationalen Parlamenten anregen. Wenn einer der vier Staaten sich in anderen Organisationen oder Foren engagiert, sollte er stets die gesamte Gruppe repräsentieren. Polen hat derzeit nicht die Stärke, gleichwertiger Partner Frankreichs und Deutschlands im Weimarer Dreieck zu sein und braucht daher die Unterstützung seiner Visegrad-Freunde.
Was die vier Staaten durch eine Zusammenarbeit gewinnen können übertrifft bei weitem die Kosten der Kooperation. Und es gibt so viel mehr, was die Visegrad-Staaten verbindet, als was sie trennt.
Translated from The Visegrad Future in Question