Die Versuchung des Türkei-Referendums
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sabine hoferWären Volksabstimmungen über den Türkei-Beitritt "ungerecht", wie es Premier Erdogan ausdrückt?
In September 2004, President Chirac, in an attempt to allay French fears about Turkey’s possible EU entry, promised a referendum on the subject. On October 6, the very day that the European Commission announced that it was in favour of beginning negotiations, the Turkish Prime Minister, Recep Tayyip Erdogan, called his promise “unjust”,
Im September 2004 versprach der französische Präsident Chirac ein Referendum über den EU-Beitritt der Türkei, um die verängstigte Bevölkerung zu beschwichtigen. Am 6. Oktober 2004 - dem Tag, an dem die Europäische Kommission ihre Absicht kundtat, Beitrittsverhandlungen zu eröffnen - bezeichnete der türkische Premier Tayyip Erdogan dieses Versprechen als "ungerecht". Das von Erdogan gewählte Adjektiv verrät die Verbitterung von jemandem, der begonnen hat, den Spott in der Tiefe des langen Annäherung an Brüssel zu ahnen.
Wie uns die Politik oft lehrt, kann keine Entscheidung vollständig gerecht oder ungerecht sein. Es kommt immer darauf an, aus welchem Blickwinkel man sie betrachtet.
Dialog mit den Bürgern
Ein Referendum zur Aufnahme neuer Länder in die EU kann gerecht sein, weil es für die Bürger der Union ein wichtiges Signal ist. Die Botschaft kann folgendermaßen verstanden werden: „Jetzt brauchen wir euch, um äußerst wichtige Entscheidungen zur Zukunft von Europa zu treffen“. Kommissionspräsident Josè Barroso hat sich für das Referendum ausgesprochen.
Wie großartig in den letzten 50 Jahren der Prozess der europäischen Integration auch war – es ist kein Geheimnis, dass die Wähler nur selten dazu aufgefordert wurden, ihre eigene Meinung auszudrücken.
Das Treffen mutiger Entscheidungen, wie etwa die Einberufung eines Referendums zu wichtigen Themen der EU (allen voran die EU-Verfassung und die Erweiterung), muss nicht unbedingt einem populistischen Wunsch der herrschenden politischen Klasse entsprechen.
Bewertung nach zweierlei Maß?
Ein derartiges Referendum kann aber auch ungerecht sein, um es mit den Worten des türkischen Premiers auszudrücken, wenn damit eine „Überraschungsklausel“ für die zuletzt Angekommenen eingeführt wird.
Erdogan will genauso behandelt werden, wie die anderen 19 Länder, die im Laufe der letzten 31 Jahre der EU beigetreten sind. Vielleicht vergisst er aber, dass die letzten Länder eine neue, zusätzliche Bedingung zu erfüllen hatten, nämlich die Kopenhagener Kriterien, wodurch deren Beitritt erschwert wurde.
Erdogan hat aber Recht, dass es nicht richtig ist, volkstümliche Argumente entscheiden zu lassen, die mehr auf emotionalen als auf objektiven Kriterien basieren. Daraus ergibt sich das Risiko einer „populistischen“ Entscheidung.
Frankreich schlägt die Einführung eines Referendums für alle Länder, die nach 2010 beitreten wollen, vor. Dies betrifft also auch die übrigen Balkanstaaten, trotzdem scheint der Vorschlag allen voran an die Türkei angepasst.
Die Suche nach Ausflüchten
Der Vorsitzende der EVP im Europaparlament, Hans-Gert Pöttering, erklärte vor kurzem: „Die europäische Politik ist weder weiß noch schwarz“. Es stimmt: In der Vergangenheit dieser jungen Union waren es vor allem die „Grauzonen“, die beschwerlich entstandene Kompromisse hervorgebracht haben, die dann häufig entscheidend dafür waren, dass der Bau des gemeinsamen europäischen Hauses voranging.
Dort, wo sich wie in diesem Fall das Gerechte und das Ungerechte treffen, kommt mit ihrer ganzen Zerbrechlichkeit eine europäische politische Klasse hervor, die den Kompass verloren zu haben scheint. Der Pragmatismus vieler Regierungschefs, denen die Visionen ihrer Vorgänger fast vollständig fehlen, ist die wahre Gefahr der Zukunft der europäischen Integration.
In der französischen Entscheidung spiegelt sich das Drama eines Europas, das auf Sicht navigiert, das sich für einen Türkeibeitritt rüstet, sich aber gleichzeitig nach dem Warum fragt. Es handelt sich um eine politische Klasse, die Schwierigkeiten hat, den Kurs zu halten, die Europa als Terrain für glorreiche nationale Forderungen sieht. Dies schadet dem nobleren gemeinschaftlichen Ziel.
Referenden sind ein gutes Instrument der Demokratie, falls sie dort eingesetzt werden, wo eine ruhige Konfrontation möglich ist. Sie sind es weniger, wenn sie einberufen werden, um Entscheidungen zu treffen zu lassen, für die man nicht genug Mut aufbringt, um sie selbst zu treffen.
Veröffentlicht am 15. Oktober 2004 in der Rubrik OrientEspresso.
Translated from La tentazione del referendum