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Die verlorenen Kämpfe der Mária Wittner

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Porträt einer ungarischen Freiheitskämpferin, die nach der gescheiterten Revolution 1956 zum Tode verurteilt wurde und zwölf Jahre im Gefängnis saß.

Mária Wittner fühlt sich nicht frei. Bis heute nicht. Die 69-jährige Frau deutet auf ein Fenster am Dachgeschoss eines Gebäudes in der Budapester Innenstadt. Hier oben half sie am 23. Oktober 1956 den Kameraden beim Sturm auf den staatlichen Rundfunk. 50 Jahre liegt der Tag zurück, der sie zur Freiheitskämpferin machte. Bis heute ist der Kampf nicht zu Ende. Bis heute sei Ungarn nicht frei, meint die Budapesterin. Die Lügen der Politiker würden das verhindern.

Mária Wittner wird 1937 in Budapest geboren. Die Erziehung übernehmen bis zu ihrem elften Lebensjahr Karmeliterschwestern, denn der Vater verließ die Familie und die Mutter schafft es kaum, die übrigen sechs Geschwister durchzubringen. "Ich bin für die Jahre im Internat in dem kleinen Dorf Gyömöre noch heute dankbar. Dort habe ich gelernt, dass Lügen Sünde sind."

Tag und Nacht gelogen

Da sie die ideologische Erziehung auf der Realmittelschule nicht erträgt, geht sie nach Szolnok, eine Stadt in Ost-Mittel-Ungarn, wo sie als Erzieherin in einem Kinderheim und später als Stenotypistin arbeitet. Nach einer kurzen Liaison wird Mária Wittner schwanger. 1955, ein Jahr vor dem Aufstand, kommt in Budapest ihr Sohn zur Welt. Da ist sie erst 18 Jahre alt. Weil sie nicht volljährig ist und ihr die Genehmigung zur Ansiedlung in Budapest fehlt, wird ihr das Neugeborene weggenommen und in einer staatlichen Kindererziehungsanstalt untergebracht.

Als sie am 23. Oktober 1956 erfährt, dass eine Demonstration für die Unterstützung der Arbeiterproteste in Polen veranstaltet wird, geht auch sie in Budapest auf den Großen Ring. "Da waren bereits viele Leute unterwegs. Ein Wagen stand in Flammen. Vor einer Buchhandlung hatten Leute kommunistische Bücher auf einen großen Haufen geworfen und in Brand gesetzt." Als ein selbstkritischer Moderator im Radio die legendären Worte spricht: "Wir logen Tag und Nacht, wir logen in jedem Augenblick", wird der Sender von der bewaffneten Regierungsmiliz ÁVO (Staatssicherheitsabteilung des Innenministeriums) eingenommen. Die Aufständischen versuchen ihrerseits, das Radio zu besetzen, um die Bevölkerung über ihre Ziele informieren zu können. An dieser Aktion ist Mária Wittner beteiligt. Elf Tage harrt sie im Gebäude gegenüber dem Rundfunk aus, hilft den Aufständischen. "Ich lud die Waffen und gab sie dann den Jungs weiter. Aber manchmal habe ich auch geschossen."

Gescheiterte Flucht

Am 4. November wird sie durch einen Granatsplitter verletzt und kommt ins Krankenhaus. "Im Krankenbett verlor ich jede Hoffnung auf Sieg, als ich den ausdauernden Lärm der russischen Granatenwerfer hörte." Nach der Niederschlagung des Aufstandes gelingt es Mária Wittner, noch vor Weihnachten 1956 in einer Gruppe nach Österreich zu fliehen. Die Emigranten werden nach Wien gebracht. Mária Wittner entscheidet sich, nach Australien auszuwandern, bittet aber zunächst das Rote Kreuz, ihren Sohn in Ungarn zu finden und nach Wien zu bringen. Ohne ihren Sohn, so entscheidet sie, will sie nicht fahren. Als er nach Wochen nicht gefunden ist, gibt sie auf und kehrt nach Ungarn zurück, um ihn selbst zu suchen.

Sie kommt in einer Radiofabrik unter, doch noch vor der Überweisung des ersten Lohnes wird sie im Herbst 1957 verhaftet. "In der Nacht klingelten die Offiziere der Staatssicherheit und durchsuchten die Wohnung. Sie haben meinen österreichischen Emigrantenausweis gefunden, das war Grund genug zu meiner sofortigen Verhaftung." 1958 kommt es zum Prozess. Mária Wittner wird für ihre revolutionäre Tätigkeit, für illegale Grenzüberschreitung und für Spionage zum Tode verurteilt.

Knapp dem Tod entronnen

Im Zuchthaus in Budapest sitzt sie gemeinsam mit der Freundin Kati, die in der Revolution neben ihr kämpfte. Diese wird nur zwei Tage nach Prozessende zur Hinrichtung abgeführt. Mária Wittner aber wird einen Monat lang im Ungewissen gelassen, bis sie erfährt, dass das Urteil in lebenslange Haft umgewandelt wurde. Sie sei zum Zeitpunkt der Straftaten noch nicht volljährig gewesen, begründete dies der Wächter. "Bis 1989 habe ich dann darüber gerätselt, warum ich am Leben geblieben bin. Ob sich die Lage langsam konsolidierte, oder war ich vielleicht wirklich zu jung?"

Im Gefängnis in Kalocsa (Mittelungarn) leidet sie vor allem in den Anfangsjahren unter den brutalen Wächtern und unter den sanitären Bedingungen. Als Toilette dient ein offener Kübel in der Zelle, Wanzen machen das Schlafen auf der Pritsche zur Qual. Der Kontakt zu ihrem lang gesuchten und schließlich in einem Heim gefundenen Sohn reißt ab, später erfährt sie von dessen krankheitsbedingtem Tod. Erst zwölf Jahre nach ihrer Festnahme, am 25. März 1970, kommit sie im Zuge einer Amnestie für politisch Gefangene frei.

Der Kampf geht weiter

Seit 1972 lebt Mária Wittner in Dunakeszi bei Budapest. Nach der Wende 1989 hat sie den Landesbund der Politischen Gefangenen gegründet, um die würdige Bestattung ihrer Kameraden von 1956 zu erreichen. Die Todesopfer des Aufstandes, und viele der nachher Hingerichteten waren hektisch in Massengräbern verscharrt worden. Erst im Jahre 2006 konnte sich Mária Wittner dazu durchringen, in die Politik zu gehen. Sie ist Fraktionsmitglied der konservativen Partei Fidesz geworden, die in Budapest in der Opposition ist. Sie trat aber nicht in die Partei ein, um ihre Unabhängigkeit nicht zu verlieren.

Noch heute, so meint Mária Wittner, sei es ihr Auftrag, für Gerechtigkeit und Freiheit in Ungarn zu kämpfen. Die demokratische Wende von 1990 nennt sie lieber ein Umziehen der alten politischen Elite und ihrer Zöglinge. "Wissen Sie, ich bin schon pensioniert. Aber ich fürchte, wenn ich meine Meinung als Angestellte bei irgendeiner Firma offen formulieren würde, so wäre ich höchstwahrscheinlich schon am nächsten Tag arbeitslos."

In diesem Sommer schien sich in Budapest die Geschichte von 1956 nun unter kapitalistischen Vorzeichen zu wiederholen. Während der jüngsten Demonstrationen in Budapest, als Zehntausende gegen die sozialistische Regierung marschierten, hielt Mária Wittner eine flammende Rede am Budapester Parlament. Einmal mehr wiederholte sie dort, was ihr die Ordensschwestern einst beibrachten. "Ich spreche die Wahrheit aus. Ob es euch gefällt, oder nicht."

Der Autor ist Mitglied des Korrespondenten-Netzes n-ost

Der Ungarnaufstand 1956

Am 23. Oktober 1956 initiieren Budapester Studenten eine Solidaritätsdemonstration mit polnischen Arbeitern, deren Proteste in Posen im Sommer 1956 niedergeschlagen worden waren. Dem genehmigten Demonstrationszug schließen sich überraschend 300.000 Budapester an. Auf dem Heldenplatz wird das Stalin-Denkmal gestürzt.

Die Studenten wollen ihre Forderungen - darunter Meinungs- und Pressefreiheit, freie Wahlen, Mehrparteiensystem, größere Unabhängigkeit von der Sowjetunion - im staatlichen Rundfunk verlesen, doch aus dem Rundfunkgebäude im Stadtteil Pest wird das Feuer auf sie eröffnet - der Beginn blutiger Kämpfe. Bereits am 24. Oktober weitet sich der Protest auf andere Städte aus, ein landesweiter Generalstreik wird ausgerufen.

Am 25. Oktober schießen Mitglieder des ungarischen Staatssicherheitsdienstes vor dem Parlament auf Demonstranten, dabei sterben mehr als 100 Menschen. Überraschend setzt die Kommunistische Partei Parteichef Ern Ger ab und ernennt den beliebten Reformkommunisten Imre Nagy, der bereist 1953 Premierminister war, erneut zum Regierungschef.

Einen Moment sieht es so aus, als würden sich die sowjetischen Truppen zurückziehen und das Land freigeben. Doch als Nagy am 30. Oktober eine Mehrparteienregierung bildet und die Neutralität Ungarns sowie den Ausstieg aus dem Warschauer Pakt verkündet und gleichzeitig Parteifunktionäre und Geheimdienstler von Aufständischen gelyncht werden, setzen sich in Moskau die Hardliner durch. Die noch in Ungarn stationierten und neu eingerückte Truppen schlagen zwischen dem 4. und 15. November den Aufstand blutig zurück. Dabei kommen auf ungarischer Seite vor allem in Budapest mindestens 2700 Menschen ums Leben.

Eine Unterstützung aus dem Westen für die Aufständischen bleibt trotz gegenteiliger Versprechen vor allem von Seiten der USA und Radio Free Europe aus. Imre Nagy wird am 22. November verhaftet und im Juni 1958 nach einem Schauprozess hingerichtet. Seine Rolle ist bis heute nicht ganz geklärt. Nach der politischen Wende in Ungarn wurde sein Leichnam exhumiert und in Ehren bestattet, inzwischen ist jedoch auch bekannt, dass er einst in der Sowjetunion ein gläubiger Stalinist war. Insgesamt werden nach dem Aufstand an 350 Personen Todesurteile vollstreckt. Rund 200.000 Ungarn flüchten ins Ausland, insbesondere nach Österreich.

Quelle: n-ost