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Die vergebliche Suche nach Normalität

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Deutschland will endlich eine „normale“ Nation werden. Und auch wieder mitmachen dürfen beim ganz normalen Antisemitismus.

Wer in Deutschland einen Judenwitz erzählt, läuft Gefahr, sich gehörig in die Nesseln zu setzen. Was in den europäischen Nachbarländern durchaus normal ist, wird in Deutschland als Geschmacklosigkeit und Geschichtsblindheit angesehen. Das dritte Reich und damit auch sein ungeheuerlichster Auswuchs, der Holocaust, prägen die deutschen Befindlichkeiten. Das Verhältnis zum Judentum ist dadurch besonders sensibel.

Nun liegt die Nazizeit bald 60 Jahre zurück. Deutschland ist eingebunden in die EU, mit der Vereinigung haben die Besatzertruppen das Land verlassen, die Niederlage ist endlich überwunden. Für viele ist es Zeit, den Blick nach vorn zu richten und sich nicht mehr über die Vergangenheit zu definieren, zumal sie gar so schrecklich war. Tatsächlich ist in Deutschland heute wieder jüdisches Leben zu finden, die Zahl der Juden ist von 20000 nach Kriegsende auf 100000 gestiegen. Im Januar 2003 wurde ein Staatsvertrag zwischen der Bundesregierung und dem Zentralrat der Juden in Deutschland unterzeichnet, der das jüdische Leben fördern und dauerhaft in Deutschland verankern soll. Das Gedenken an die Ermordung der Juden im 3. Reich institutionalisiert sich an Orten wie dem Jüdischen Museum oder dem Holocaust-Mahnmal in Berlin.

Mahnmal oder Schandmal?

Haben die Deutschen endlich ein „normales“ Verhältnis zu den abnormalen Untaten ihrer Vorfahren gefunden, einen „unverkrampften“ Umgang mit ihrer Vergangenheit, wie Roman Herzog in seiner Antrittsrede als Bundespräsident forderte? Mitnichten. Die nunmehr 15 Jahre alte Debatte um das Holocaust-Mahnmal verdeutlicht die deutsche Zerrissenheit zwischen Selbstkasteiung und der Forderung nach einem Schlussstrich unter die Vergangenheit. Für die einen repräsentiert das geplante Stelenfeld einen traurigen, aber integralen Teil der deutschen Identität und ist Symbol der Verpflichtung zur Menschlichkeit, anderen ist das steinerne Schuldbekenntnis schlicht ein Dorn im Auge. Ende 1998 kulminierte dann der Streit anlässlich der Rede des Schriftstellers Martin Walsers zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels. Die „Dauerrepräsentation unserer Schande“ wird, so Walser in seiner Rede, „zu gegenwärtigen Zwecken missbraucht“, das Mahnmal ist für den Schriftsteller ein „fußballfeldgroßer Alptraum“(1). Seine kaum verhohlene Zustimmung signalisierte Bundeskanzler Gerhard Schröder: „Ein Dichter darf so etwas. Ich dürfte das nicht.“ Er hätte am liebsten ein Mahnmal „zu dem die Menschen gerne hingehen“ und so die Geschichte kurzerhand unter den Teppich der Spaßgesellschaft gekehrt. Rudolph Augstein, journalistische Ikone und inzwischen verstorbener Herausgeber des „Spiegel“, präzisierte nur wenige Wochen später Walsers wolkig-dichterische Anklage: Auschwitz werde missbraucht zur Forderung überhöhter Entschädigungszahlungen jüdischer Zwangsarbeiter an die deutsche Industrie. Das geplante Mahnmal sei ein „Schandmal“, das „gegen die Hauptstadt und das in Berlin sich neu formierende Deutschland“ gerichtet sei. Augstein bedient hemmungslos antisemitische Stereotypen, wenn er eine vermeintlich machtvolle „jüdische Ostküste“ als treibende Kraft hinter den Plänen für das Mahnmal ausmacht: „Man wird es aber nicht wagen, (...) mit Rücksicht auf die New Yorker Presse und die Haifische im Anwaltsgewand, die Mitte Berlins freizuhalten von solch einer Monstrosität“. Nicht die geschichtliche Tat ist für Augstein monströs, sondern ihre Repräsentation, die die Deutschen daran hindert, endlich normal zu werden. Augsteins Polemik gipfelt in einem Zitat von Konrad Adenauer:„Das Weltjudentum ist eine große Macht.“ (2)

Die Juden als übermächtiges und heimlich agierendes Kartell darzustellen ist ein verbreitetes antisemitisches Klischee. Die Zahl der in Deutschland lebenden Juden wird heute drastisch überschätzt: 31% der Deutschen vermuten mehr als 5 Millionen jüdische Mitbürger, das 50fache der tatsächlichen Zahl. In der selben Umfrage werden 23% der Befragten antisemitische Einstellungen zugeschrieben. Fünf Jahre zuvor waren es noch 20%. (3)

Verharmlosung der Geschichte

Die allgemeine Forderung nach einem „Schlussstrich“ unter die Aufbereitung der deutschen Nazi-Geschichte geht mit einer Relativierung des Holocaust einher. Tierschützer sprechen von „Hühner-KZ“, wenn sie Legebatterien meinen, das Schlagwort „Nie wieder Auschwitz“ wird zur Rechtfertigung für Auslandseinsätze der Bundeswehr gebraucht. Der nordrhein-westfälischen Landtagsabgeordnete Jamal Karsli unterstellte im Bundestagswahlkampf 2002 der israelischen Armee „Nazi-Methoden“ und beklagte den „sehr großen Einfluss der zionistischen Lobby“. Sein Gönner Jürgen Möllemann wiederholte gebetsmühlenartig, dass man ja wohl die israelische Regierung kritisieren dürfe, und stellte lakonisch fest: Wenn es in Deutschland Antisemitismus gebe, dann nur, weil er von Juden wie Michel Friedman und Ariel Scharon provoziert werde. Die Juden sind also die eigentlichen Täter und zudem selber Schuld, wenn sie gehasst werden. Die gleiche Strategie der Umkehr von Opfer- und Täterrolle findet sich auch beim Bundestagsabgeordneten Martin Hohmann. In einer Rede zum Tag der deutschen Einheit am 3. Oktober 2003 stellte er die These auf, dass die Juden wegen ihrer Beteiligung an der bolschewistischen Revolution in Russland „mit einiger Berechtigung als Tätervolk“ bezeichnet werden könnten. Das Herausstellen vermeintlicher Schandtaten der Juden soll die eigene Schuld relativieren und so die Deutschen „normaler“ erscheinen lassen. Normal sollte jedoch keineswegs die fatalistische Akzeptanz menschlicher Schandtaten sein, sondern die verantwortliche Bejahung der deutschen Identität, die, wie jedes nationales Wesen, von der Geschichte geprägt ist. Und wenn die deutsche Geschichte auch wenig glorreich ist, so ist sie umso mehr Verpflichtung zu Achtsamkeit und Humanität. Einen Schlussstrich unter die Nazizeit und die beherzte Rückkehr zum ganz normalen Antisemitismus darf es nicht geben.

(1) Martin Walser in seiner „Friedenspreisrede“ am 11. Oktober 1998 in der Frankfurter Paulsskirche.

(2) Rudolph Augstein: „Wir sind alle verletzbar“. In: Der Spiegel 49/1998

(3) repräsentative Umfrage von FORSA. In: stern 48/2003