Die Tour de France: Drehkreuz Europas
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Astrid PfeiferDie Tour de France ist nach den Olympischen Sommerspielen und der Fußballweltmeisterschaft das drittbeliebteste Sportereignis im Fernsehen. Oft fragt man sich, wieso sich Leute Typen in Shorts, die alle dem Ball hinterherrennen, anschauen. Doch wieso sollte man zum 1000. Mal Rennfahrern in Radlerhosen dabei zusehen, wie sie Berggipfel erklimmen? Rückwärtsgang.
„Ein Weg zu reisen“
„Um meine Leidenschaft für die Tour de France zu verstehen, müssen wir in die 90er Jahre zurückgehen, nach Madrid, in den Juli, wo es in der Regel 40 Grad im Schatten heiß war. Ein Ventilator und ein Fernseher. Auf dem Bildschirm durchqueren die Rennfahrer tolle Landschaften, ganz in grün. Die Straße ist gesäumt von Zuschauern, Farben, Fahnen und für mich als kleines Kind eröffnet sich ein ganz neues Universum. S0 entdecke ich, dass jeder Tag ein neues Kapitel voller kämpferischer und kraftvoller Geschichten ist, in denen meine Helden die unglaublichen ‚Mauern‘ der Alpen bezwingen.
Nach der Tagesetappe, gegen 19 Uhr (es war immer noch 30 Grad warm), traf ich mich dann mit meinen Freunden auf der Straße, um die Geschichte nachzuspielen. ‚Hast du Indurain gesehen?‘ (Miguel, ein spanischer Rennfahrer, der den Toursieg fünf Mal hintereinander geholt hat, Anm. d. Red.) ‚Jalabert (ehemaliger französischer Rennfahrer, Anm. d. Red.) war am Berg unglaublich!‘ Natürlich sind deshalb meine schönsten Erinnerungen geprägt von Bergen, die bezwungen werden müssen, Worten, die auf der Straße geschrieben stehen, dem roten Teufel, einem Maskottchen, dass neben den Rennfahrern herläuft und der Ankunft in Paris. Die Tour de France im Fernsehen anzuschauen war für mich ein Weg zu reisen. Ein Weg, einem Zuhause zu entwischen, wo man als Kind aus Madrid ein Einsiedler war.“
Manu, Spanien
„Ich mochte die Tour de France dank meiner Kindheitserinnerungen. Wie soll man nicht anfangen zu träumen, wenn während des Sardinienurlaubs im Fernsehen das Peloton die Champs-Elysées und die Place de la Concorde überquert? Als ich nach Paris kam, um dort zu arbeiten und zu leben, habe ich 2009 die Tour als Journalistin verfolgt. Nach der letzten Etappe bin ich auf die Champs-Elysées gegangen, um die Fahrer zu interviewen. Ich bekam eine Gänsehaut, als seine Majestät Lance Armstrong (ehemaliger US-amerikanischer Fahrer, Anm. d. Red.) mit seinem Rennrad an mir vorbeifuhr. Genauso Franco Pellizotti (italienischer Fahrer, Anm. d. Red.), der den Gewinn des gepunkteten Trikots feierte. Einige Jahre später wurden die Auftritte, die mich damals erschaudern ließen, aufgrund der Dopingskandale entzaubert. Im Großen und Ganzen hatte ich keine echten Champions gesehen...“
Nicola, Italien
„Es mag vielleicht komisch erscheinen, aber ich schaue die Tour de France wegen ihrer Landschaften: all ihre Schlösser, Berge, der Mont-Saint-Michel... Es ist wie einmal ein Freund zu mir gesagt hat: „Die Tour de France ist eine Postkarte von drei Wochen Frankreich.“ Natürlich habe ich auch immer die Ergebnisse verfolgt und ich habe die Spannung zwischen den leidenden Bergspezialisten und den rastlosen Sprintern geliebt. Die Tour ist vor allem eine Frage der Ausdauer. Dieses Jahr will ich vor allem Peter Sagan, den slowakischen Fahrer im grünen Trikot (das vom Führenden des Punktesystems getragen wird, Anm. d. Red.), im Auge behalten. Im Juli ist grün die Lieblingsfarbe der Slowaken.
Meine schönste Erinnerung? Auf jeden Fall die schönsten Endspurte der Tour. Da fällt mir der von 1989 ein, als Greg Le Mond (ehemaliger US-amerikanischer Fahrer, Anm. d. Red.) Laurent Fignon (verstorbener französischer Fahrer, Anm. d. Red.) mit acht Sekunden Vorsprung noch das gelbe Trikot weggeschnappt hat. Das war die erste Tour, die ich verfolgt habe. Etwas aktueller, fällt mir auch Cadel Evans (ehemaliger australischer Fahrer, Anm. d. Red.) ein, der Andy Schleck (ehemaliger luxemburgischer Fahrer, Anm. d. Red.) das gelbe Trikot weggenommen hat. Außerdem eine belastendere Erinnerung, der Tod von Fabio Casartelli nach einem Unfall am 18. Juli 1995...“
Tomas, Slowakei
Superhelden, Helis und der Gigant der Provence
„Schon immer war ich von den Bergen der Tour fasziniert. Kein Zweifel, dass für mich der wahre Held derjenige ist, der auf den Champs-Elysées im gepunkteten Trikot (des besten Bergfahrers, Anm. d. Red.) ankommt. Richard Virenque (ehemaliger französischer Fahrer, Anm. d. Red.) und Marco Pantani (verstorbener italienischer Fahrer, Anm. d. Red.) scheinen schon immer nur für die legendären Anstiege von Alpe d’Huez und dem Mont Ventoux, bekannt als ‚Giganten der Provence‘ (der Gipfel erreicht eine Höhe von 1911 Metern, Anm. d. Red.), gelebt zu haben.
Als Kind konnte ich Stunden vor dem Fernseher verbringen und auf die letzten Zweikämpfe über den Wolken warten. Ich erinnere mich daran, wie Virenque und Patani am Berg aus dem Sattel gingen und dabei aussahen, als würden sie von einer unsichtbaren Kraft auf den Gipfel getrieben. Heute wissen wir sehr wohl, dass diese Kraft sich durch etliche illegale Substanzen erklären ließ. Auf gewisse Weise sind die ‚Könige der Berge‘ Superhelden. Erschreckend und faszinierend zugleich.“
Jasper, Deutschland
„Mein Großvater kommt ursprünglich aus Bagnères-de-Bigorre. Zwei oder drei Mal habe ich mit ihm am Straßenrand die Rennfahrer angefeuert, die die mystischen Pässe des Aspin und Tourmalet in den Pyrenäen überquerten. Dies waren meine ersten Berührungen mit der Tour de France, in der Menge mit den Lastautos, wo Andenken verkauft wurden, den gepunkteten Trikots und dem „Besenwagen“, der das Ende des Feldes bildete und mich faszinierte. Nun, für mich ist die Tour eine Geschichte aus Schatten und Frische. Während der heißen Julitage flüchtete ich mich ins Wohnzimmer, wo der Fernseher verblüffende Bilder aus den Bergen zeigte. Man sieht sich zwar nie wirklich eine ganze Etappe an, und doch ist es beruhigend. Der Lärm der Begleitfahrzeuge, des Publikums, das Dröhnen des Helikopters...
Ich erinnere mich vor allem an Gesichter. Das ungerührte Gesicht Lance Armstrongs, das leidende Gesicht Jan Ullrichs (ehemaliger deutscher Fahrer, Anm. d. Red.), die Grimassen Francisco Mancebos (spanischer Fahrer, Anm. d. Red.). Doch meine schönste Erinnerung bleibt der heldenhafte Aufstieg nach La Mongie von Ivan Basso (ehemaliger italienischer Fahrer, Anm. d. Red.), gefolgt von Armstrong im Jahr 2004. Je mehr sich die - orangefarbene - Menge zurückzog, desto mehr öffnete sich die Straße Richtung Gipfel. Und mit allem, was man jetzt weiß, war es der Sieg eines Helden, eines echten Helden.“
Lucas, Frankreich
Translated from Tour de France : pignon sur l'Europe