„Die europäische Ohnmacht ist desaströs“
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inja geissFrieden in Palästina, nachbarschaftliche Politik ,gegenseitiges Vertrauen. Ein Gespräch über die Beziehungen zwischen Europa und den Anrainerstaaten des Mittelmeeres mit Sami Naïr.
Als Abgeordneter des europäischen Parlaments, Präsident der Delegation für die Beziehungen mit den Ländern des Maschrek und der Golfstaaten und Mitglied der Kommission für Außenpolitik, liefert uns Sami Naïr seine Analyse über die Kräfte und Schwächen des euro- mediterranen Bündnisses und über das Verhältnis Europas zu seinem Hinterhof.
café babel: Welches ist die Bilanz der euro- mediterranen Partnerschaft?
Sami Naïr: Es ist noch zu früh, um eine vollständige Bilanz der euro- mediterranen Partnerschaft zu ziehen. Alle Abkommen des Bündnisses zwischen der Union und den Dritte-Welt-Staaten sind unterzeichnet, außer jenes mit Syrien, was aber bis Ende dieses Jahres geschehen soll. Die Mehrheit dieser Übereinkommen ist in Kraft getreten. Es handelt sich hierbei um einen unbestreitbaren Fortschritt. Aber auf wirtschaftlicher Ebene sind noch einige Jahre harter Arbeit nötig. Es gilt nun diese Partnerschaft nach den folgenden Fragen zu bewerten: Hat die Freihandelszone die Entwicklung der Dritte-Welt-Staaten begünstigt, die Diversifikation ihrer Produktionssysteme vorangetrieben, ausländische Direktinvestitionen angezogen und das Wachstum dynamisieren können?
Hilft man damit den Lebensstandard und die soziale Entwicklung (Bildung, Zugang zu medizinischen Hilfsmitteln, Entwicklung der Sozialversicherungssysteme etc.) einer größtmöglichen Anzahl von Menschen zu steigern? Dort liegen die wahren Herausforderungen des europäisch-mediterranen Bündnisses.
Wenn man sich auf die ältesten Abkommen bezieht (Marokko und Tunesien), so liegt das Ziel noch in weiter ferne. Schwerwiegender erscheint jedoch, dass die Vorbedingungen für das Gelingen der Freihandelszone, d.h. der Anstieg der Privatinvestitionen, sich nicht zu realisieren drohen. Nach dem letzten Bericht des französischen Institutes CEPII sind die „Nettobeiträge von Privatkapital, die in die Region des Afrikanisch- Mittleren- Osten geflossen sind, im Jahr 2002 gleich null“. Jedoch hätte gerade diese Partnerschaft das geeignete Signal der politisch Verantwortlichen für die Märkte sein können, um eine Neuorientierung der Finanzflüsse in diese Regionen der Welt zu begünstigen. Ohne massive Maßnahmen des privaten Sektors droht die wirtschaftliche Öffnung der Südländer des Mittelmeers in einer Vertiefung der ökonomischen und sozialen Krise zu enden.
Wie äußert sich die Partnerschaft bezüglich der Lösung des israelisch- palästinensischen Konflikts?
Eines der Ziele des Bündnisses ist die Gewährleistung des Friedens und der Sicherheit im Mittelmeerraum. Selbst wenn dieses Ziel in der Deklaration von Barcelona (1995) sehr allgemein gefasst bleibt, so versteht es sich dennoch von selbst, dass die Situation im Mittleren Orient die Gesamtheit der Beziehungen zwischen Europa und der arabischen Welt schwer belastet.
Der amerikanische Angriff auf den Irak hat deutlich gezeigt, wie sehr Europa in seiner Linie gegenüber dieser Weltregion gespalten war. Die europäische Ohnmacht ist desaströs, denn gerade Europa wäre in der Lage, eine Welt zu fördern, die auf Multipolarität, auf dem Respekt der Nationen und, im wirtschaftlichen Bereich, auf Solidarität gründet. Es ist nicht möglich, sich ein effizientes Bündnis ohne Frieden in Nahost und ohne solidarische Verkopplungen zwischen der Südseite des Mittelmeeres und Europa vorzustellen.
Was soll Europa im Mittelmeerraum tun?
Im strategischen Bereich muss Europa um die Durchsetzung der Multipolarität kämpfen, um den Respekt des Völkerrechts und um eine Reform der UNO, welche dieser Institution mehr Wirkungskraft verleihen würde.
Im Mittleren Orient sollte das Hauptziel Europas in der Wiederherstellung von Recht und Sicherheit in Palästina liegen, mit dem Ziel einen lebensfähigen palästinensischen Staat zu schaffen.
Auf wirtschaftlicher Ebene sollte sich das Bündnis auf die soziale Entwicklung hin umorientieren und nicht nur auf die Öffnung der südlichen Märkte für europäische Produkte schielen.
Die Kommission hat zusammen mit sämtlichen Grenzstaaten der erweiterten Union eine interessante Variante der « Politik der Nachbarschaft » vorgeschlagen. Diese Länder sollen in das Konzept eines einheitlichen Marktes mit einbezogen werden. Wenn diese Umsetzung die besonderen Erfordernisse der Südländer hinsichtlich des Exportes, der Kooperation und der finanziellen und technischen Unterstützung mit einbezieht, so könnte sich das Bündnis auf lange Sicht für beide Parteien als profitabel erweisen.
Wie könnte die Antwort auf die amerikanische Politik in der Region aussehen?
Da die Vereinigten Staaten nicht an die Mittelmeerregion angrenzen, ist ihre Politik im Hinblick auf diese Region rein instrumentell.
Auch legen sie als Weltmacht Nummer 1 ein imperiales Verhalten an den Tag, welches sich nicht um internationale Regelungen schert.
Europa hingegen, das als direkter Nachbar von den wirtschaftlichen Entwicklungen der südlichen Gesellschaften stark betroffen ist, muss eine Beziehung des Vertrauens und der Solidarität mit diesen Ländern aufbauen und erhalten.
Auch wenn die amerikanische Regierung anders denkt, die Politik der Gewalt kann nur zum Scheitern führen. Die Situation im Irak beweist es. Angesichts dieses Scheiterns und des wachsenden Chaos im Mittleren Osten sind die Europäer in ihrer Haltung gespalten. Dennoch könnte Europa in diesen Gebieten eine solidarische und respektvolle Politik gegenüber den betroffenen Nationen weiterführen. Im Falle des Nichtgelingens ist es dringend nötig, dass diejenigen Nationen, die die Multipolarität unterstützen – Frankreich, Deutschland, Belgien... - und all jene, die sich ihnen anschließen möchten, auch ohne ein sie umgebendes Europa ihre Politik durchsetzen. Die Suche nach einem europäischen Konsens gegenüber den USA oder dem Nahostkonflikt darf die Europäer, welche mit der arabischen Welt Beziehungen auf der Basis von Vertrauen führen wollen, anstatt durch die Paranoia des Kampfes gegen den Terrorismus getrieben zu sein, nicht paralysieren. Die Unfähigkeit Europas darf nicht zum Vorwand einer Ohnmacht seiner Mitglieder werden. Hat nicht Frankreich im Laufe der Irakkrise gezeigt, dass für Europa auch ein anderer Weg möglich ist?
Translated from « L’impuissance européenne est désastreuse »