Die „Anti-Erdoğans“: Gegen den „eisernen Willen"
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Istanbul ist gerade voll mit Plakaten, auf denen Erdoğan ernsthaft und entschlossen nach vorne blickt. „Eiserner Wille“ (türkisch: sağlam irade) steht darauf. Was ist aus dem „türkische Occupy“ geworden? Wir begeben uns auf die Reise durch die Türkei, denn Widerstand ist nicht nur in der Hauptstadt zu finden.
Es sind weiterhin tiefgreifende gesellschaftliche Auseinandersetzungen, die den Nährboden für die Proteste in der Türkei liefern. Um diese Konflikte in einer äußerst vielschichtigen Gesellschaft aufzuspüren, interviewten wir vor Ort Wissenschaftlern, Aktivisten, Teilnehmer der Zivilgesellschaft und Künstler. Dabei trafen wir auf Menschen, die das Gefühl hatten, angesichts der Verhältnisse fehle ihnen die Luft zum Atmen, die letzten Sommer das erste Mal im gegen die Regierung protestierten und deren Aufbegehren von Baggern überrollt wurde.
Der Premier Erdoğan setzt alles in Bewegung, um seine AKP an der Macht zu halten. Seit der Regierungskrise im vergangenen Dezember hat er zehn Minister ausgetauscht, Hunderte von Polizisten versetzt und einer ausländischen Verschwörung gegen die aufstrebende Wirtschaftsmacht Türkei die Schuld für die aktuelle Regierungskrise angelastet. Erst vor wenigen Tagen wendete sich Erdoğan im Berliner Tempodrom an Tausende der in Deutschland lebenden Türken, um für die diesjährig anstehenden Kommunal- und Präsidentschaftswahlen zu mobilisieren. Alles, um die AKP am Ruder zu halten.
Die jüngsten Orte des Protests in der Türkei sind auch jene, an denen bereits die Gezi-Protestbewegung im Sommer 2013 ihren Ausgang nahm und schrittweise das ganze Land überrollte. 3,5 Millionen Menschen gingen innerhalb von nur wenigen Wochen in über 90 Städten des Landes gegen Erdoğans autoritären Regierungsstil, seinen Eingriff in ihre Privatsphäre, Polizeigewalt sowie die Auswüchse einer rasanten wirtschaftlichen Modernisierung auf die Straße. Das „türkische Occupy“ begann am 28. Mai 2013 durch Umweltaktivisten, die sich gegen die anrückenden Bagger auflehnten, welche die Bäume auf der zentralen Parkfläche für ein geplantes Shoppingzentrum fällen sollten. In kürzester Zeit solidarisierten sich Einzelpersonen und unterschiedlichste Gruppierungen mit den Aktivisten und es entstand die „freie Republik“ von Gezi, in der sich ganz unterschiedliche Ressentiments gegen die Regierung entluden.
„Das Gefühl zu ersticken“ – Islamisierung des Alltags
Auf unserer Reise gelangen wir nach Nışantaşı, einem glamourösen Stadtteil Istanbuls mit schicken Einrichtungs- und Bekleidungsläden, in direkter Nähe vom Gezi Park. Orhan Pamuk ist hier aufgewachsen und beschreibt in seinem Roman „Istanbul“ das etablierte, liberale und gebildete Bürgertum, das im vergangenen Jahrhundert in diesen Straßen verkehrte. Heute säumen den Straßenrand Caféketten wie Starbucks und schicke Confiserien. Hier treffen wir Deniz Sert, die aus einer Istanbuler Familie stammt und diese Stadt, außer für ihre Auslandsaufenthalte mit der Uni, nie wirklich verlassen hat.
Deniz hat zwei Kinder und ist mit Mitte Dreißig bereits Professorin an einer Privatuniversität. Sie redet schnell, gestikulierend und mit energischem Nachdruck: „Er hat mich damals als Çapulcu (Plünderer) beschimpft!“ „Er“ ist Recep Tayyip Erdoğan. Damals bezieht sich auf die Zeit der ersten Proteste auf dem Taksim-Platz im Mai 2013, wo sie das erste Mal in ihrem Leben auf Töpfen trommelnd gegen die Regierung auf die Straße zog. Dabei sei doch jemand wie sie das moderne Gesicht des Landes, empört sich Deniz. Erdoğan brauche solche Menschen wie sie; mehrsprachig, weitgereist und als Akademikerin in ganz Europa gefragt. Noch niemand habe sie je als marginal, als Abschaum der Bevölkerung bezeichnet.
Wir, das sind die Bürger auf der Straße
Für sie ist es vor allem die Islamisierung in den Großstädten wie Istanbul, der sie ängstigt. Eine Freundin, AKP-Anhängerin und bewusste Kopftuchträgerin, habe sie während der Proteste auf ihrem Handy angerufen und gefragt, was denn überhaupt los sei und warum sie auch auf die Straße ginge. Deniz wird nachdenklich. Es habe damit begonnen, dass die Regierung mehr und mehr damit anfing, in ihr Privatleben einzugreifen. „Ich hatte das Gefühl zu ersticken. Beim Gezi-Protest bin ich das erste Mal auf Menschen getroffen, die ähnlich denken wie ich. Vorher habe ich immer gedacht, ich sei allein mit meinen Gefühlen. Dort merkte ich, dass andere die Entwicklungen genauso beängstigten wie mich.“
Einige Wochen nach unserem ersten Gespräch mit Deniz Sert bricht im Dezember 2013 der Korruptionsskandal in der Türkei aus. Sie wirkt mittlerweile resigniert, als wir sie erneut nach ihrer Einschätzung befragen. „Ich befürchte, in diesem Machtspiel sind wir reine Beobachter eines Kampfes zwischen der Gülen-Bewegung und der AKP“, äußert sie ihre Besorgnis. „Wir“, das sind die Bürger auf der Straße, die sich nicht zu den politischen Eliten zugehörig fühlen und die Gezi dazu gebracht hat, sich selbst erstmals als aktive politische Subjekte zu begreifen. Das erneute autoritäre Auftreten der Regierung führt bei Menschen wie Deniz jedoch zu Apathie und dem Gefühl der Machtlosigkeit: „Wer immer auch von diesen beiden Gruppierungen gewinnen wird, das Volk wir dabei verlieren…“