Die Anti- Erdoğans: Die Uni erwacht
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Ist die Taksim-Bewegung noch am Leben? Was ist aus dem „türkische Occupy“ geworden? Wir begeben uns auf die Reise durch die Türkei, denn Widerstand ist nicht nur in der Hauptstadt zu finden. In Teil 2 unserer Reportage befassen wir uns mit der wirtschaftlichen Situation in der Türkei unter der AKP-Regierung. .
Wir besuchen den Campus der Middle East Technical University (METU) in Ankara, von wo aus die Gezi-Protestbewegung im Herbst 2013 neuen Aufschwung erhalten hatte. An dieser linksgerichteten Uni treffen wir Mustafa Şen, der hier Soziologie lehrt. Mit ihm sprechen wir über die wirtschaftlichen Machenschaften der Regierungspartei und den Protest gegen Erdoğan. Das riesige Areal der Universität, in den Anfangszeiten selbständig von Studierenden und Lehrenden mit Bäumen bepflanzt, ist heute die letzte freie Großgrünfläche der Stadt. Links-alternativ aussehende Studierende sitzen im Gras und diskutieren angeregt. Die zweite Protestwelle nach Gezi entlud sich, als zur Feier des muslimischen Opferfests polizeibegleitete Bulldozer gegen den ausdrücklichen Widerstand der Universitätsleitung in den Campus der Universität eindrangen und Hunderte von Bäumen fällten.
Auf Anordnung von Bürgermeister Melih Gökçek, musste der Wald einer Stadtautobahn weichen. Bei unserem Besuch, zwei Wochen nach dem Opferfest im Oktober 2013, ist von den Auseinandersetzungen ein kleines Protestcamp mit symbolischen Baumpflanzen und bemalten Bannern geblieben. Studierende berichten von Molotowcocktails und stundenlangen Tränengasattacken.
Mustafa Şen empfängt uns freundlich in seinem hellen Büro voller Bücher und Manuskripte. Zum offenen Fenster scheint die herbstliche Sonne herein. „Die Straße durch den METU-Campus ist ökonomisch völlig bedeutungslos. Es geht um deren symbolischen Wert.“ Şen meint, dass passe zur „massiven ökologischen und urbanen Zerstörung der türkischen Regierungspartei AKP”. Ähnlich wie bei Gezi wurde jeglicher Protest brutal von der Polizei niedergeschlagen. In den letzten zehn Jahren hat die AKP einschneidend in den Kohlabbau investiert, Wälder gefällt, Staudämme gebaut und beinah alle Flüsse im Land wirtschaftlich nutzbar gemacht.
Im urbanen Raum ist der Bausektor zentralisiert worden und wurde so zu einem effizienten Mittel, um Gelder für die Regierung zu erwirtschaften: „Man muss den Bausektor verstehen, wenn man die AKP verstehen möchte“, erläutert Şen. Die Politik des neoliberalen Wirtschaftsbooms auf der einen und der wohlfahrtsstaatlichen Mildtätigkeit auf der anderen Seite, reichten sich dort die Hand. Şen erinnert uns an die Schilder, die wir auf der Fahrt nach Ankara am Rande der Autobahn sichten konnten: „TOKI“ rankt dort unverkennbar zwischen Neubauprojekten und brachliegenden Landflächen. TOKI war mal eine staatliche Organisation, die neuen Wohnraum für die sozial schwachen Schichten der Türkei schaffen sollte. Meistens am Rande der Großstädte in Form riesiger betonierter Sozialbauten. Mittlerweile baut TOKI auch für die neuen reichen Eliten der Türkei moderne Wohnhäuser. „Nicht selten weichen Slums mit langjährig gewachsenen Nachbarschaftsstrukturen der Modernisierung.“
Viele erst seit Erdoğans Ära gegründete Unternehmen ziehen großen Nutzen aus dem rasanten Energie- und Wohnungsausbau. Teil des erwirtschafteten Geldes wird vor den Wahlen in Form von Essens- und Kohlepaketen an die sozial Schwächeren verteilt, um der AKP Stimmen zu sichern. Das Projekt sei das einer radikalen urbanen Umgestaltung, die mit Umverteilung von lukrativem Wohnraum an die neue konservative Elite des Landes einhergeht. Es gehe bei den Protesten auch um die grundlegende Vision dessen, wie sich das Land kulturell und wirtschaftlich in den nächsten Jahren entwickeln soll. „Führende Personen in der AKP bis hin zu Premierminister Erdoğan besitzen eigene Wirtschaftsunternehmen“, erklärt uns Şen.
Die Kritik der „Antikapitalistischen Muslime“
Kritik am wirtschaftspolitischen Kurs der AKP regt auch bei den „antikapitalistischen Muslimen“. Bekannt wurden sie im Protestsommer 2013 vor allem durch das symbolische Fastenbrechen in der Istanbuler Fußgängerzone Istiklal. Eine Inspirationsquelle der Gruppierung sind unter anderem die Schriften des iranischen Philosophen Ali Shariati. Im Zentrum von dessen Religionsphilosophie steht die Idee der Gleichheit. Für die antikapitalistischen Muslime lautet die wichtigste Forderung des Korans, die Kluft zwischen Arm und Reich zu überwinden. Durch das alternativ organisierte Fastenbrechen wollte man sich im Sommer von der Regierungspartei abgrenzen, die den Ramadan allabendlich im Luxus von Fünf-Sterne-Hotels beging. „Mit ihrem Verständnis des Islam bieten die antikapitalistischen Muslime für gläubige Muslime eine interessante kritische Alternative zur Politik der AKP“, findet Şen. Die antikapitalistischen Muslime üben Kritik an der neoliberalen Agenda der islamisch-konservativen Regierung. Derzeit jedoch als außerparlamentarische Opposition jenseits der großen Parteien.
Dies ist der zweite von drei Teilen einer Reportage, die sich mit dem heutigen Stand des türkischen Widerstands gegen ökonomische, kulturelle und politische Entwicklungen des Erdoğan-Regimes auseinandersetzt. Teil 1