Die Angst vor der "gelben Gefahr"
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Nele YangDas Bild, das die Medien des Westens von China entwerfen, schwankt zwischen Verteufelung und Verherrlichung. Dabei sind Europa und die USA an den Missständen im heutigen China nicht ganz unschuldig.
Während der Pariser Unruhen im Mai 1968 organisierten sich unter der Führung Jean-Paul Sartres zahlreiche Maoisten. Das gaullistische Frankreich erzitterte. In jenem Jahr errichteten protestierende Studenten Barrikaden in den Straßen von Paris. Von New York bis Prag wurde das aus dem Marxismus-Leninismus hervorgegangene Gedankengut des "Großmeisters" Mao Zedong entdeckt, mit dessen Hilfe der Kapitalismus erneut bekämpft werden sollte. In dieser Zeit färbte sich die "gelbe Gefahr" rot.
China, die kleine Schwester der Sowjetunion, bescherte dem unter der Last des Stalinismus ächzenden Kommunismus eine zweite Jugend. Wegen China drohte den westlichen Gesellschaften ihr Grund wegzubrechen, denn der Klassenkampf war nun wieder aktuell. Er wurde durch eine Jugend verherrlicht, die ihn für moralisch gerechtfertigt hielt und bereit war, die Straßen im Sturm zu nehmen.
Angst vor dem chinesischen Turbo-Kapitalismus
Andere Zeiten, andere Sitten. Das Auslaufen des WTO-Abkommens über Textilwaren und Bekleidung löste im vergangenen Januar in der gesamten Europäischen Union eine Panikwelle aus. Das Ende des Abkommens bedeutet, dass alle mengenmäßigen Beschränkungen für die Einfuhren von Textilwaren und Bekleidung aus WTO-Mitgliedsländern abgeschafft werden müssen. Im April erklärte der für den Handel zuständige EU-Kommissar Peter Mandelson: "Es gibt Gründe zur Sorge. Europa kann nicht untätig bleiben."
Die Furcht vor dem Reich der Mitte ist beständig, hat aber oft die Gestalt gewechselt. Noch vor 30 Jahren war China ein erklärter Feind des westlichen Kapitalismus. Doch das heutige China ist ein Kind eben dieses Kapitalismus und ein monströses dazu. Und Europa erschauert. China wird heute mit eiserner Hand von einer nur dem Namen nach kommunistischen Regierung geführt und nach den Prinzipien der Marktwirtschaft umgewandelt. Und plötzlich ist China das Symbol einer globalisierten ultra-kapitalistischen Ordnung, die ausschließlich auf Profit ausgerichtet ist und den elementarsten Prinzipien der Demokratie schadet, seien es nun die Achtung der Menschenrechte oder die Arbeitsbedingungen für Lohnempfänger.
Zwischen Lob und Tadel
China findet sich regelmäßig dem Angriff von Kritikern ausgesetzt, die sämtliche Sorgen und Nöte der Globalisierung an ihm festmachen. Doch das Land wird in Kommentaren auch hymnisch gelobt. Ständig werden Chinas wirtschaftliche Leistungen und das seit 1978 anhaltende Wachstum – ungefähr 9% pro Jahr – angepriesen. Manel Olle, Professor der Fakultät für Ostasienstudien an der Universität "Pompeu Fabra" in Barcelona, erinnert in seinem kürzlich erschienenen Buch "Made in China" daran, dass das von den Medien verbreitete Bild Chinas zwischen Verherrlichung und Tadel schwanke. Dies hänge, so Olle, jeweils davon ab, ob man sich auf die Schnelligkeit der wirtschaftlichen Entwicklung oder auf die durch diese Entwicklung entstehenden Ungleichheiten und Unterdrückungen in der Gesellschaft konzentriere.
Olle glaubt, dass das China-Bild davon abhängt, welcher Wind gerade aus Washington weht. 1997 reiste der damalige chinesische Präsident Jiang Zemin in die USA, ein Jahr später stattete ihm sein Amtskollege Bill Clinton einen Gegenbesuch ab. Nun schien die amerikanische – und indirekt auch die europäische – Presse plötzlich zu entdecken, dass China doch nicht so bedrohlich und übel gesinnt war, wie es noch im Juni 1989 die dramatischen Ereignisse auf dem Tiananmen-Platz vermuten ließen. Dort waren während der Niederschlagung von Studentenaufständen durch die Armee nahezu 1400 Menschen ums Leben gekommen, mehr als 10 000 wurden verletzt.
45 cent Stundenlohn
Um nicht sein Fähnchen in den Wind der Medien zu hängen, ist zweierlei vonnöten. Zum ersten: Immer wieder wird China dafür verurteilt, dass es sich in die Fabrik einer deregulierten Welt verwandelt habe, in der Produkte zu spottbilligen Preisen auf den internationalen Markt gebracht werden. Man darf aber nicht vergessen, dass zahlreiche dieser verwünschten Produktionsstätten, die chinesische Arbeitskräfte zu unhaltbaren Bedingungen beschäftigen, erst durch Kapital aus dem Westen ermöglicht wurden. Ein Beispiel hierfür ist die Schuhfabrik "Timberland", vor Ort "Kingmaker" genannt. 4700 Arbeiter zählt die Fabrik, darunter 80% Prozent Frauen und eine unbestimmte, aber dennoch beachtliche Anzahl von Kindern. Bei einer Arbeitszeit von sechzehn Stunden pro Tag beträgt der Stundenlohn 45 Cent. Auch Puma lässt im kantonesischen Dongguan seine Angestellten täglich 16 Stunden arbeiten, nur alle zwei Wochen gibt es einen Ruhetag.
Zum zweiten: China ist groß, komplex und widersprüchlich. Man kann das Land auf eine bestimmte Art darstellen und im nächsten Moment auf eine ganz andere, die sich zur ersten gegensätzlich verhält. Beide Darstellungen sind keine Lügen, aber sie beschränken sich auf die vereinfachte, stereotype Wiedergabe der Wirklichkeit.
Translated from L’Europe et l'angoisse du « péril jaune »