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Der Rais ist tot – es lebe der Frieden?

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Arafat ist tot, und ohne ihn beginnt im Nahen Osten eine neue Ära. Für Europa eröffnet die veränderte Situation neue Chancen, sich als glaubhafter Förderer der Demokratie zu präsentieren – und dem Friedensprozess neuen Atem einzuhauchen.

Das befürchtete Chaos im Kampf um Arafats Nachfolge ist ausgeblieben. Bis zur Wahl eines neuen Präsidenten am 9. Januar 2005 führt der Parlamentspräsident Rauhi Fattuh die Regierungsgeschäfte. Doch so einfach, wie die Nachfolge auf dem Papier geregelt ist, stellt sie sich in der Realität jedoch nicht dar. Arafat hinterlässt ein gewaltiges Vakuum, weil er zugleich Vorsitzender der PLO, der Fatah-Bewegung – der größten und wichtigsten Gruppierung innerhalb der PLO – und Präsident der Autonomiebehörde war. Diese Machtkonzentration hat er durch ein kaum zu durchblickendes Netzwerk abgesichert, in dem alle mit Geld gepäppelten Loyalitäten auf ihn persönlich ausgerichtet waren. Aus Angst vor Intrigen und Machtverlust hat Arafat nie einen Nachfolger benannt. Dieser wäre – als letzter Wille des „Übervaters“ (Akram Musallam in der „Zeit“) – sicherlich in demokratischen Wahlen bestätigt worden. Stattdessen bekämpfen sich nun einzelne Vertreter seines Netzwerkes um Macht und Einfluss in Palästina.

Junge gegen Alte

Im Ringen um Arafats Nachfolge stehen sich zwei Gruppen gegenüber, die den palästinensischen Kampf um Unabhängigkeit ganz unterschiedlich erlebt haben: Die eine, die „alte Garde“ gehört der Gründungsgeneration der Fatah und damit der historischen Führung an, die lange Jahre die Geschicke des Volkes aus dem Exil in Tunis bestimmte. Die „junge Garde“ dagegen wuchs in den besetzten Gebieten auf, hat die Rebellion der ersten Intifada Ende der 80er Jahre geleitet und fordert seit Jahren demokratische Reformen der Autonomiebehörde.

Der wichtigste Vertreter „der Alten“ ist der 69jährige Machmud Abbas (auch unter seinem „Kriegsnamen“ Abu Mazen bekannt), der wenige Monate unter Arafat Ministerpräsident war. Wegen seiner moderaten Einstellung genießt er zwar ein hohes Ansehen im Westen, sein politischer Rückhalt innerhalb Palästinas ist aber eher gering. Trotzdem gilt er als aussichtsreichster Kandidat für die Nachfolge Arafats, weil er die Unterstützung von Teilen der jungen Garde genießt. So wurde Abbas bei einem Besuch in Tulkarem von einer begeisterten Menge gefeiert. Ihm gegenüber steht der 50jährige Mustafa Barghouti, ein ehemaliges Mitglied der Palästinensischen Volkspartei (Kommunisten), der von der Palästinensischen Befreiungsfront unterstützt wird. In den Umfragen steht Barghouti, der sich als Vertreter der "neuen Garde" präsentiert, auf dem zweiten Platz. Seine Chance sind jedoch geringer als die des anderen Barghouti, des berühmteren Marwan, ein entfernter Cousin, der in der zweiten Intifada eine wichtige Rolle spielte und der seine Kandidatur zurückgezogen hat, da er in Israel eine lebenslange Haftstrafe verbüßt.

Chance für den Frieden – und die EU

Welche Rolle kann die EU in der „Zeit nach Arafat“ spielen? Die Karten im Nahen Osten werden neu gemischt, auch wenn EU-Diplomat Javier Solana die Frage eines Journalisten, ob Arafats Tod eine neue Chance für den Frieden bieten könnte, barsch zurückwies („Es scheint mir unangebracht, den Tod selbst eines umstrittenen Mannes als Chance zu begreifen“). Dass die neue Konstellation dem festgefahrenen Friedensprozess neuen Atem einhauchen könnte, dürfte auch den Europäern nicht verborgen bleiben. Sogleich hat die EU-Kommission finanzielle Unterstützung zum Abhalten freier Präsidentschaftswahlen angeboten und stellt eine 260 Mann starke Task-Force unter dem früheren französischen Premier Michel Rocard zur Wahlbeobachtung zur Verfügung. Andererseits forderte Solana US-Präsident Bush auf, sich nach seiner Wiederwahl stärker in der Region zu engagieren.

Europa und die USA können im Nahen Osten nur gemeinsam erfolgreich sein. Während Bush der einzige ist, der Israel dazu bringen kann, seine aggressive Politik in den besetzten Gebieten aufzugeben, so genießt Europa bei den Palästinensern das Vertrauen des ehrlichen Maklers. Was beide Seiten bisher von einer stärkeren Zusammenarbeit abhielt, waren die unterschiedlichen Auffassungen über Arafats Rolle im Friedensprozess. Während Amerika (und Israel) davon überzeugt waren, eine friedliche Lösung des Konflikts könne nur ohne den Rais erreicht werden, so haben die Europäer stets an ihm als dem gewählten Vertreter des palästinensischen Volkes festgehalten. Diese Differenzen haben sich durch Arafats Tod in Luft aufgelöst: Der Nachfolger wäre einerseits demokratisch gewählt, andererseits genösse er ein höheres Vertrauen der USA und Israels. Insofern liegt in der gegenwärtigen Situation eine doppelte Chance – für Europa wie für den Nahen Osten. Die transatlantischen Partner könnten endlich an einem Strang ziehen, wodurch Europa seinen Einfluss in der Region stärken würde. Andererseits könnte sich die EU als glaubhafter Förderer und Unterstützer der Demokratie einen Namen machen. Daher werden die Europäer gut daran tun, den nächsten demokratisch gewählten Präsidenten der Palästinenser ähnlich konsequent zu unterstützen wie Arafat. Dadurch könnte die EU weltweites Ansehen erwerben, das sie auch in anderen Weltregionen gut brauchen kann. Bleibt zu hoffen, dass Israel den Nachfolger Arafats ebenfalls akzeptieren wird.

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