Der Islam für Dummies aus Istanbul
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Lilian PithanFür einen Europäer, der noch nie mit der islamischen Kultur in Kontakt gekommen ist, kann ein Spaziergang durch die Straßen Istanbuls eine sehr exotische Erfahrung sein. Was ist der Unterschied zwischen einem Muezzin und einem Imam? Wie genau war das noch mal mit dem Kopftuch? Zum Glück sind wir mit Anas Eryarsoy unterwegs, einem Universitätsprofessor und Experten in Islamkunde.
Alles, was ihr schon immer über den Islam wissen wolltet, aber euch nie zu fragen getraut habt.
Auf den ersten Blick könnte Istanbul eine ganz normale europäische Hauptstadt sein: Verkehrschaos, Menschenmassen, Werbung für Burger King und Kellner, die ahnungslose Passanten vom Gehsteig in ihr Restaurant locken. Aber eben nur auf den ersten Blick. Denn wenn man stehen bleibt und die Augen schließt, ändert sich alles. Der Geruch der Gewürze kitzelt in der Nase, eine süßlich-weinerliche Stimme schmeichelt dem Ohr, als wolle sie die Zeit anhalten, und flauschige Vierbeiner kämpfen um Aufmerksamkeit. Doch wenn man dann die Augen wieder öffnet und vor der Blauen Moschee steht, wird einem plötzlich klar, dass das echte Istanbul erst noch entdeckt werden muss.
1) Die Stimme des Muezzins
Federico (italienischer Redakteur): „Wer singt denn da?“
Archi (spanischer Redakteur): „Was für eine dumme Frage! Das ist der Gebetsruf des Muezzins...“
Federico: „Und was betet der da?“
Anas: „Das sind feste Formeln, die mehrmals wiederholt werden: 'Allah ist groß!' zum Beispiel, oder 'Es gibt keinen Gott außer Allah.' Aber glaubt bloß nicht, dass er das mechanisch immer wieder wiederholt. Das ist vor allem sein eigenes Gebet. Auch in den Pausen zwischen einer Anrufung und der nächsten betet er weiter.“
Federico: „Gibt es in jeder Moschee einen Muezzin?“
Archi: „Natürlich! Hörst du nicht, dass das zwei Stimmen sind, die miteinander sprechen?“
Anas: „Ganz so ist es nicht. Es gibt nur einen Muezzin, oder besser: nicht einen einzigen in ganz Istanbul, aber nur einen für jedes Viertel. Er singt am Mikrofon in einem eigens dafür vorgesehenen Zimmer und der Gesang wird dann über Lautsprecher mal von der einen, mal von der anderen Moschee aus abgespielt.“
2) Allah
Federico: „Mal ganz praktisch: Wer ist Allah überhaupt? Ein christlicher Jesus?“
Archi: „Was denkst denn du! Wird sind hier in der Türkei!“
Anas: „In gewissem Sinne mag das ja die gleiche Sache sein, aber das Konzept, auf dem unsere Religion aufbaut, ist die Einheit. Euer Gott ist gleichzeitig eins und dreifaltig und wird von Aposteln und Heiligen umringt. Unser Pantheon ist viel kleiner: Es gibt nur ihn. Als ihr in der Moschee wart, habt ihr vielleicht gemerkt, dass es dort keine Heiligenbilder oder bunte Kirchenfenster gibt. Uns reicht es, nur ihn zu lieben und zu ihm zu beten.
Federico: „Na wenigstens spart ihr dann bei den Heiligen!“
Archi: „Federico, sei doch nicht so respektlos!“
3) Der Imam
Anas: „Das wichtigste ist, dass wir keine Mittler brauchen. Ihr habt Priester, die oft sehr viel Einfluss haben. Wir richten uns direkt an Allah und können unsere Beziehung zu ihm selbst gestalten.“
Archi: „Zum Beispiel?“
Anas: „Wir haben beispielsweise keine festen Gebete. Jeder kann selbst entscheiden, wie er sich an Allah wenden will, ob er um Hilfe flehen oder einen Teil des Korans aus dem Gedächtnis rezitieren will. Das macht jeder wie er will. Außerdem können wir beten, wo wir wollen, vorausgesetzt wir tun es fünfmal am Tag. Das klingt wie eine Verpflichtung, ist aber nur eine Form, ihm Respekt entgegenzubringen.“
Federico: „Okay, aber was genau ist der Imam dann?“
Anas: „Ein Imam ist nicht wie euer Priester. Er ist genauso wie wir, er ist uns gleichgestellt. Er kann keine Beichte abnehmen, folgt keiner Liturgie und hat keinen Einfluss. Er ist nur ein Orientierungspunkt in der Moschee.“
Archi: „Aber was sind dann die Kriterien, nach denen der Imam ausgesucht wird?“
Anas: „Man nimmt einfach den, der die schönste Stimme hat. So einfach ist das!“
Federico: „Ah! Das muss ich unbedingt einem Pfarrer erzählen, den sie wegen schlechter Führung aus der Kirche geworfen haben. Besser, er landet hier als bei X-Factor!“
Archi: „Ich kenn dich nicht!“
4) Die Frauen
Federico: „War es Allah, der wollte, dass sich die Frauen das Gesicht verhüllen?“
Anas: „Du machst wohl Witze!“
Federico: „Gar nicht!“
Anas: „Also, pass auf: Ihr Europäer seid es, die das Kopftuch für eine Strafe halten, für ein Versteckspiel. Für uns und die Frauen hier ist es nur ein ethnisches Accessoire, ein Überbleibsel der biblischen Tradition, der Darstellungen in den heiligen Schriften. Auch Maria oder Mutter Theresa, noch bevor sie das Gelübde abgelegt hat, trugen ein Kopftuch.“
Federico: „Das mag sein, aber unsere Freundinnen mussten ein Kopftuch aufziehen, um in die Moschee gehen zu können.“
Anas: „Ja, aber ihr zieht doch auch den Hut, wenn ihr in die Kirche geht. Warum ist das wichtig? Das ist nur eine Form von Respekt vor einem Gebetshaus.“
Archi: „Und warum muss man sich die Schuhe ausziehen und die Füße waschen?“
Anas: „Das ist genau das gleiche. Die Moschee ist ein heiliger Ort, an dem man betet. Das Waschen des Körpers symbolisiert auch eine Vorbereitung auf die innere Reinheit. Die Reinheit des Gebets.“
Archi: „Aber warum sind die Frauen in der Moschee während des Gebets immer von den Männern getrennt?“
Anas: „Auch hier geht es um den Respekt vor Allah. Beim Beten muss man in die Knie gehen und mit dem Kopf den Boden berühren. Das kommt daher, dass der Kopf der edelste Teil unseres Körpers ist. Stellt euch mal vor, wie ein Mann vor dem Hintern einer Frau beten würde!“
Federico: „Ein schlauer Schachzug! Das gebe ich zu, auch wenn du mich nicht überzeugst, lieber Anas. Du meinst nicht wirklich, dass die Rolle der Frau hier die gleiche ist wie im Okzident, oder?“
Anas: „Also: Im Koran gibt es ein ganzes Kapitel, dass nur der Frau gewidmet ist. Das Kapitel der Maria. Ich glaube nicht, dass das in den christlichen Schriften auch der Fall ist oder dass der Frau in ihnen viel Platz eingeräumt wird. Daher muss relativiert werden. Euer Ziel ist die Gleichheit, unser Prinzip ist die Gerechtigkeit. Ihr wollt, dass Mann und Frau vollkommen gleich sind. Wir versuchen, eine gerechte Gesellschaft zu schaffen.“
Archi: „Was meinst du damit?“
Anas: „Zum Beispiel muss eine Frau nicht fünfmal am Tag beten, wenn sie menstruiert, oder muss das Fasten während des Ramadans nicht einhalten, wenn sie schwanger ist. Männer und Frauen sind nicht gleich: Wir versuchen, gerecht zu sein und die Unterschiede zwischen ihnen zu wahren.“
5) Die Homosexuellen
Federico: „Das mag sein, aber ich glaube doch, dass eure Religion in einigen Fällen nicht sehr tolerant ist. Heute Morgen haben wir einen homosexuellen jungen Mann kennen gelernt, der uns gesagt hat, dass man hier auch sterben kann, nur weil man schwul ist.“
Anas: „Aber das hat mit dem Islam nichts zu tun. Rassismus existiert überall, nicht nur in den muslimischen Ländern. Das ist genauso wie mit den Terroristen. Ein böser Mensch ist nicht böse, weil er Moslem ist. Er ist einfach nur böse und basta. Ein guter Gläubiger wird nur an der Liebe gemessen, die er Allah entgegen bringt. Es ist egal, ob er Mann, Frau, schwul oder bisexuell ist. Wir unterscheiden böse Taten von bösen Menschen.“
Archi: „Kannst du das genauer erklären?“
Anas: „Ich will nicht sagen, dass ein Homosexueller kein guter Mensch ist. Aber für uns sind Kinder, also Söhne und Töchter einfach eine sehr wichtige Sache. Und ein homosexuelles Paar kann einfach keine Kinder in die Welt setzen. Und noch weniger adoptieren. Für uns sind Kinder eine Säule der Gesellschaft: Sie müssen einen Vater und eine Mutter haben. Damit sie nicht im Waisenhaus enden, bietet der Staat finanzielle Hilfen für Familien, die eine Waise adoptieren wollen.“
Federico: „Weißt du, Anas... Dieses ganze Gerede hat mich wirklich durstig gemacht!“
Archi: „Das ist die erste interessante Sache, die du im ganzen Artikel sagst!“
Foto: (cc)RICCIO "il colore del ricordo inganna"/flickr; (cc)jean-pierre jeannin/flickr; (cc)modenandude/flickr; Video: YouTube
Translated from Per le strade di Istanbul: l'Islam per negati