Der Goldene Bär 2014: Kohle, Eis und Leichenteile
Published on
Ein betrunkener Kommissar, viel dreckige Kohle, das Quietschen von Kufen auf Eis und eine betörende Schöne. Das sind die Zutaten für eine künstlerische Meisterleistung und das sah auch die Jury der Berlinale so: Der goldene Bär der 64. Internationalen Filmfestspiele Berlin geht an den chinesischen Ganovenfilm Bai Ri Yan Huo 2014) von Diao Yinan. Filmkritik
Langsam, wie träumend gleitet die junge Wu Zhizhen (Gwei Lun Mei) über die Eisfläche, die mal gelb, mal blau aufleuchtet. Aus den Lautsprechern säuselt klassische Musik und alles könnte so schön traurig sein. Wäre da nicht der suspendierte Kriminalkommissar Zhang Zili (Liao Fan), der unbeholfen auf seinen Kufen der schönen Wu hinterher stolpert. „Hören Sie auf, mich zu verfolgen.“ Auf die Nachricht auf einem Zettel, den Wu ihm in der Wäscherei zusteckt, reagiert der Kommissar nicht, der seit fünf Jahren ein psychisches Wrack ist. Damals waren in verschiedenen chinesischen Kohlefabriken Leichenteile gefunden worden, doch das grausige Verbrechen dahinter konnte nie aufgeklärt werden.
Ermittlungen auf eis: zhang zili und die halbe hand
Als bei einer Schießerei zwei von Zhangs Kollegen getötet werden, wird der Kriminalkommissar, dessen Ehefrau ihm gerade erst die Scheidungspapiere überreicht hat, aus dem Dienst entlassen. Jahre später tauchen neue Leichenteile auf und als Inspektor Wang (Yu Ailei) die Ermittlungen wiederaufnimmt, kann auch Zhang es nicht lassen. Auf eigene Faust spürt er Wu, dem totgeglaubten Liang Zhijun (Wang Xuebing), dem Wäschereibesitzer RongRong (Wang Jingchun) und anderen Gestalten der kleinstädtischen Unterwelt nach, in der er nicht nur Kohlespuren und ganz viel Schnee, sondern auch blutige Kufen und ein dunkles Geheimnis entdeckt.
Offizieller Kinotrailer von Bai Ri Yan Huo (2014) des chinesischen Regisseurs Diao Yinan.
Was hauptsächliche düster und tragisch daherkommt, ist stellenweise aber auch sehr komisch - einen so watschelig über das Eis schlitternden Kriminalkommissar hat man sicherlich noch nicht gesehen. Die Geschichte von Zhang und Wu erzählt der chinesische Regisseur Diao Yinan in seinem neuen Film Bai Ri Yan Huo (Black Coal, Thin Ice 2014) mit so viel Feingespür für die seelischen Untiefen seiner Akteure und so viel Situationskomik, dass selbst Zuschauer, die kaum für Detektivgeschichten schwärmen, den Blick nicht von der Leinwand wenden können. „China befindet sich im Umbruch. Vieles, was hier passiert, scheint einfach unglaublich. Manche Morde beispielsweise sind vollkommen absurd – und gleichzeitig recht genaue Abbildungen unserer Realität.“ Diao Yinan, der in China vor allem als avantgardistischer Theatermacher bekannt ist, war es besonders wichtig, die ungeschminkte chinesische Wirklichkeit darzustellen.
Mit Anleihen bei Orson Welles und einer subtilen, am film noir abgeschauten Ästhetik schafft es Diao Yinan, mit Bai Ri Yan Huo eine neue Interpretation des verworrenen Kriminalstoffes zu liefern. So ist die Figur der Wu Zhizhen keineswegs eine schillernde femme fatale, die Kommissar Zhang mit blutrünstigem Blick verführt. Sie wirkt vielmehr wie ein kleines Mädchen, wenn sie still und einsam auf der Eisfläche ihre Runden dreht, die mehr aus Ungeschicklichkeit als aus Bösartigkeit in den Kriminalfall hineingerutscht ist. Großartig spielt ebenso Liao Fan, der dem Kriminalkommissar nicht nur emotionale Tiefe verleiht, sondern alle Facetten eines depressiven Alkoholikers ausspielt: „Der Ermittlungsprozess entschleiert ein Individuum, das mit sich selbst im Clinch liegt. Unentschiedenheit, Feigheit, Verrat und der Impuls, sich einfach sozialen Normen anzupassen: Diese Schwächen entstammen der Negativität und Passivität des menschlichen Herzens“, meint Diao Yinan.
Feuerwerk bei Tageslicht und fantastische Geschichten
Für seine intensive Darstellung des stoischen Kommissars erhielt Liao Fan dann auch verdientermaßen den Silbernen Bären als bester Schauspieler. Die letzte Szene von Bai Ri Yan Huo ist allerdings Wu vorbehalten, die ihre alte Wohnung besichtigt. Während sie verträumt in den Himmel starrt, kracht es plötzlich in einem der oberen Stockwerke und ein Feuerwerkskörper explodiert wie schillernder Schnee am Himmel. Der Originaltitel des Films lautet dementsprechend Feuerwerk bei Tageslicht und unterstreicht den fantastischen Charakter der Geschichte: „Feuerwerk ist wie eine Katharsis, die wir Menschen benutzten, um uns vor den schlimmen Seiten der Realität zu schützen. Die Menschen in China haben das momentan bitter nötig“, meint Diao Yinan.
Mit der Figur des Zhang Zili hoffe er, seine Zuschauer dazu anzuregen, über ihre moralischen Entscheidungen nachzudenken: „Man muss entschieden handeln – und nicht nur blind den Regeln folgen, ohne das in Frage zu stellen, was einem erzählt wird.“ Der unglückliche Kriminalkommissar Zhang hat sicherlich den Mut dazu, auch wenn er sich damit in Lebensgefahr bringt. Aber nur so gelingt es ihm schließlich, seinen Fall zu lösen. Wer der Mörder ist und ob die mädchenhafte Wu sich in den einsamen Kommissar verliebt, tritt am Ende hinter die subtile Schönheit fantastischer Alltagsmomente zurück. Zu wunderbar ist das glitzernde Feuerwerk am blauen Himmel, zu ominös die dunklen Kohlespuren im Schnee. Was sich darunter verbirgt, bleibt weiterhin ein Geheimnis.
CAFEBABEL BERLIN BEI DER 64. BERLINALE
Wir lieben Filme! Unsere täglichen Updates bekommt ihr direkt hier im Magazin oder über Berlin.Babel.Blog und @CafebabelBerlin. Freut euch auf spannende Filmkritiken, Interviews mit noch unentdeckten Stars und Schnappschüsse rund um den Berlinale Palast.