Participate Translate Blank profile picture
Image for Der Boris Johnson-Effekt - Schadet der Brexit Frauen mehr als Männern?

Der Boris Johnson-Effekt - Schadet der Brexit Frauen mehr als Männern?

Published on

Translation by:

Madi Ferrucci

AcadeMyBrexitGeschlechtsbezogene GewaltImpactEditors Pick

Mit dem Austritt aus der EU steht nicht nur die Wirtschaft der Insel vor drastischen Veränderungen. Viele britische Gesetzesmaterien, wie der “Pay Discrimination Act” beruhen auf EU-Recht und sind nun in Frage gestellt. Das Brexit-Gesetz räumt der Regierung neue Vollmachten ein.

Eine Gruppe junger Leute von der Labour-Partei wartet ungeduldig auf die ersten Wahlergebnisse in einem Londoner Pub. Als die ersten Zahlen veröffentlicht werden, geht ein Aufschrei der Enttäuschung durch den Raum. Es ist ein Erdrutschsieg für Boris Johnson: der Brexit ist fix. Die neunzehnjährige Sally greift sofort nach ihrem Handy, um zuhause anzurufen. „Meine Mutter arbeitet seit 25 Jahren beim National Health Service. Es wird Kürzungen geben und es geht in Richtung Privatisierung der Diensteistungen. Wir machen uns Sorgen“ sagt Sally. Aufgrund ihres Alters konnte Sally beim Brexit-Referendum 2016 noch nicht mit abstimmen. Die jüngste Wahl war ihre einzige Gelegenheit gehört zu werden: „Als Frau habe ich Angst vor dem Verfall der Werte dieser Gesellschaft und ich denke, dass die Folgen für alle sehr schwerwiegend sein werden“.

Ist der Brexit besonders schlimm für Frauen?

Abgesehen vom Gesundheitsdienst sind viele Aktivist:innen und Beobachter:innen besorgt, der Austritt Großbritanniens aus der EU und folglich aus dem Rahmen gemeinschaftlich garantierter Rechte, könne Frauen besonders schaden. „Unser System basiert auf dem common law und die Europäischen Normen haben gewaltigen Einfluss auf unsere Rechtsordnung“, sagt Roberta Guerrina, Professorin an der Universität von Surrey. Von 2017 bis 2019 war sie Inhaberin des Jean-Monnet-Lehrstuhls für Geschlechterpolitik und Europastudien.

Mit Unterstützung durch das Jean-Monnet-Programm hat Roberta Guerrina eine wissenschaftliche Forschungsgruppe aufgebaut, die Studien zu Geschlechterpolitiken durchführt.

London, am 12. Dezember 2019. Aktivisten der Labour-Partei warten auf die Wahlergebnisse.
2019  (cc) Filippo Poltronieri
London, am 12. Dezember 2019. Aktivistinnen der Labour-Partei warten auf Wahlergebnisse. © Filippo Poltronieri

Vor einigen Jahren, während einer BBC-Radiodebatte über den Brexit, hörte Guerrina, wie der Moderator die Abwesenheit von Frauen in der Sendung damit begründete, dass es keine kompetenten Expertinnen zum Thema gebe. Die Professorin kontaktierte sofort Kolleginnen und schickte einen Brief mit dutzenden Namen von Expertinnen zur Redaktion der Radiosendung. Wegen ihrer Forschung hat sie in den letzten Jahren per Post und per Email viele Drohungen erhalten: „Die Brexitdebatte hat immer auf männlichen Werten basiert, war stets an ein männliches Publikum gerichtet, und wurde von Männern geführt. Trotzdem werden die Konsequenzen des Brexits besonders Frauen treffen, die schon seit Jahren unter Kürzungen der Sozialausgaben und der Austeritätspolitik leiden. Diese Politiken haben Sozialleistungen wie Bildung und Mutterschaftsleistungen bis hin zum Gesundheitswesen beschnitten“, sagt Guerrina. „Die Kampagnen zum Brexit haben außer Acht gelassen, welche Folgen der Brexit auf Bürgerrechte und besonders auf Frauen haben wird“.

Goodbye, europäischer Grundrechtsschutz?

„Der Impact des Brexit auf juristischer Ebene wird schwerwiegend“, sagt auch Aisha K. Gill, Professorin für Kriminalwissenschaften und Expertin für Geschlechterstudien an der Universität von Rohempton. „Britische Gesetze zum Schutz von Frauen, wie der Equal Pay Act aus dem Jahr 1970, der Pay Discrimination Act aus dem Jahr 1975 und der Equality Act aus dem Jahr 2010 (Maßnahmen zur Geschlechtergerechtigkeit im Wirtschaftsbereich), sind dank europäischer Richtlinien eingeführt worden“.

Die Women’s Budget Group, ein britischer Think Tank für Geschlechterpolitik, weist darauf hin, dass der Brexit die Zusammensetzung der britischen Wirtschaft gewaltig verändern wird, wobei in stärkerem Maß Sektoren mit hohem Anteil weiblicher Beschäftigter betroffen sind. Neben der verarbeitenden Industrie, die mehr männliche Arbeitskräfte hat, werden etwa der Textilsektor, das Gesundheitswesen und der Sozialbereich hart getroffen, in denen weibliche Beschäftigung überwiegt. Studien zeigen, dass ein harter Brexit (ein Austritt ohne Abkommen) größere Auswirkungen auf das Einkommen von Frauen als auf das der Männer hätte.

Ein weicher Austritt dagegen wäre vergleichsweise “geschlechterneutral”. Die Women’s Budget Group hat ihre tiefe Besorgnis über das Withdrawal Agreement Bill zum Ausdruck gebracht: einerseits legt das Gesetz den Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union fest, andererseits verpflichtet es das Land, bestimmte Teile aktueller europäischer Gesetzgebung als innerstaatliche Rechtsvorschriften zu übernehmen. Was ist dabei das Problem?

Der Vertrag sieht vor, dass, angesichts der Notwendigkeit einen einheitlichen Gesetzesrahmen für die Post-Brexit-Zeit zu schaffen, Regierungsmitgliedern breite Machtbefugnisse eingeräumt werden, mit denen sie Teile des Primärrechts, sogar den Withdrawal Act selbst, ändern oder außer Kraft setzen können. Die Women’s Budget Group beklagt, dass Regierungsbeamte durch diese Befugnisse die Möglichkeit erhalten, das Arbeitsrecht und die Equal Acts von 2006 und von 2010 substanziell zu ändern.

Feministische Organisationen befürchten, dass dadurch in jahrzehntelangen Kämpfen errungene Rechte wie die Elternzeit und der Diskriminierungsschutz in Frage gestellt werden. Auch Amnesty International macht sich Sorgen anlässlich der fehlenden Übernahme der Europäischen Grundrechtecharta ins britische Recht. So würde die Möglichkeit entfallen, auf Grundlage europäischer Rechtsvorschriften zu klagen.

Eine Frage des Geldes

Hier enden die Schwierigkeiten noch lange nicht, und sie beschränken sich auch nicht aufs Juristische. Wie in anderen EU-Ländern haben auch in Großbritannien Organisationen Finanzmittel aus Brüssel erhalten. Gelder waren dem Kampf gegen Gewalt an Frauen oder der Förderung von Geschlechtergerechtigkeit gewidmet und wurden auch so verwendet, teils um den fortgesetzten Kürzungen während zehn Jahren Austerität Einhalt zu gebieten. Seit 2010 sind die Geldmittel für Gewaltpräventionszentren um 7 Millionen Euro gekürzt worden. Eine von sechs Einrichtungen musste schließen.

Während Tory-Regierungen Ausgabenkürzungen in Höhe von 50 Prozent für Organisationen durchsetzten, die soziale Dienstleistungen erbringen, stieg die Nachfrage nach solchen Dienstleistungen um 85 Prozent. Die Folgen davon sind unmittelbar zu spüren. In London ist zwischen 2011 und 2018 die Zahl registrierter Fälle häuslicher Gewalt um 63 Prozent gestiegen: von 48.000 auf 78.000. Und das Problem betrifft nicht nur die Hauptstadt. Die von der englischen und walisischen Polizei erhobenen Daten sprechen für sich: 2018 wurden 173 Menschen im Kontext häuslicher Gewalt getötet. 2017 waren es noch 141 gewesen. Dabei steht Großbritannien bei der Höhe an vom Daphne Programm erhaltenen Mitteln an zweiter Stelle gleich hinter Italien. Seit 1997* hat die EU in diesem Programm zig Millionen Euro aufgewendet, um von häuslicher Gewalt betroffene Frauen zu unterstützen.

„Die Auswirkungen der Kürzungen sind real“, erklärt Margaret Skelly, die Leiterin des Domestic Violence Intervention Project, einer Organisation, die seit 25 Jahren in London Hilfe für Frauen und Minderjährige anbietet, die Opfer von Gewalt geworden sind. „Unsere Arbeit ist für die gedacht, die Gewalt erleiden. Aber wir haben auch Projekte entwickelt, die auf die Gewalttäter abzielen. Wir haben insbesondere mit Personen arabischer Herkunft gearbeitet. Es ist sehr wichtig, diejenigen, die Gewaltdelikte begehen, miteinzubeziehen. So behandelt man die Ursachen und nicht nur die Folgen. Leider mussten wir diese Projekte in den letzten Jahren herunterfahren“, sagt Skelly mit bitterer Stimme.

Zwei Tage vor den Wahlen vom 12. Dezember 2019 hat das Kollektiv Sisters Uncut für eine Stunde die Waterloo Bridge blockiert. Bei der Blockade kamen Sofas zum Einsatz, um eine erschütternde Wirklichkeit anzuprangern: in 44 Prozent der Fälle häuslicher Gewalt wissen Frauen nicht wohin, sobald sie ihr Haus verlassen haben.

Seit Jahren beklagt die feministische Frauengruppe die tödlichen Auswirkungen der Kürzungen von Dienstleistungen. In einem im „The Guardian" erschienenen Artikel des Kollektivs heißt es: „Wir glauben an keine politische Partei, aber in diesem historischen Augenblick fällt die Wahl leicht: mehr Tod oder weniger Tod“. In Anbetracht des Wahlergebnisses klingt das nach einem Appell, der ungehört gebliebenen ist. Indem die Mehrheit der Bürger:innen Boris Johnson gewählt hat, hat sie sich für Kontinuität entschieden. Einmal abgesehen vom Brexit.


Logo 30 anni Jean Monnet (cc) Programma Jean Monnet
30 anni di programma Jean Monnet © Programma Jean Monnet

Die Serie AcadeMy wird unterstützt vom Jean Monnet Programm der Europäischen Union. Mehr Informationen über Aufgaben und Ziele des Jean Monnet Programms finden Sie auf der offiziellen Website der Europäischen Union.

Story by

Filippo Poltronieri

Freelance journalist

Translated from Effetto Boris Johnson: nel Regno Unito, la Brexit colpirà soprattutto le donne