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Das "Unsichtbarkeitsrisiko" der humanitären Hilfe

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Der Krieg in der Ukraine hatte ein beispielloser Moment der internationalen Solidarität in Europa und der ganzen Welt zufolge. Unzählige Länder - vor allem in der Europäischen Union - schickten humanitäre Hilfe. Dies bestätigt, dass humanitäre Hilfe in erster Linie eine politische Entscheidung seitens der reichsten Länder der Welt ist. Und deshalb können diese reichen Länder mehr für den Rest der Welt tun. Im letzten Beitrag unserer GenerAction-Reihe warnt der ONE-Jugendbotschafter Guillermo San Pro Blázquez, dass der Konflikt in Europa nicht die Bedürfnisse anderer Länder überschatten sollte.

Die derzeitige Instabilität in der Welt hat ein erstaunliches Bild vom wählerischen Verhalten der Länder bei der Bewältigung globaler Herausforderungen gezeichnet.

Das jüngste Beispiel ist das Auseinanderklaffen zwischen den umfangreichen Bemühungen der internationalen Gemeinschaft, der Ukraine in ihrer unbestreitbaren Not zu helfen, und der Reaktion auf die afrikanischen Länder, die ebenfalls von Krisen, einschließlich tödlicher Konflikte, betroffen sind, aber immer wieder um bereits zugesagte Hilfe bitten müssen.

Das Auftreten neuer Krisen und die anhaltende Dauer anderer Krisen führt zu einem Phänomen, das ich gerne als "Unsichtbarmachung" bezeichne und das aufgrund der kurzen Aufmerksamkeitsspanne der Spenderländer und der sich ändernden geopolitischen und strategischen Prioritäten eintritt, wodurch einige Krisen in einem endlosen Kreislauf bleiben und andere nur halb gelöst werden.

Der Krieg in der Ukraine hat einen Wettlauf zur Spitze ausgelöst - eine Art Wettbewerb darum, wer das "wohltätigste" Land ist und somit die meisten Komplimente erhält. Diese Haltung würde wahrscheinlich überhaupt nicht kritisiert werden, wenn sie das Standardverfahren bei der Reaktion auf alle ernsten globalen Krisen wäre.

Schlechte Präzedenzfälle

Leider hat uns die Geschichte (und die Gegenwart) gezeigt, dass mit zweierlei Maß gemessen wird, je nachdem, wo sich die Betroffenen befinden oder sogar welcher Herkunft sie sind.

Ein eindeutiges Beispiel ist die Nahrungsmittelkrise im Jahr 2011, die weite Teile Afrikas und insbesondere Somalia traf. Laut einer von dem Referat für Ernährungssicherheit und Ernährungsanalyse (Food Security and Nutrition Analysis Unit) veröffentlichten Studie führte die späte und ineffektive Reaktion der Hilfsorganisationen zum Tod von fast einer Viertelmillion Menschen, die Hälfte davon Kinder.

Die Hilfe in Form von Bargeld oder Gutscheinen war zwar hilfreich, reichte aber nicht aus. Sie wurde ausserdem nicht immer ordnungsgemäß umgesetzt.

Dieser Trend, dringend benötigte Hilfe zu leisten, aber die Ziele nicht zu erreichen, lässt sich auch auf institutioneller Ebene beobachten, wenn man die Entwicklungsfinanzierung betrachtet. Die Öffentliche Entwicklungszusammenarbeit (kurz: ODA) ist eine von Regierungen und offiziellen Einrichtungen eingegangene Verpflichtung in Form von jährlicher Hilfe für Länder mit niedrigem Einkommen.

Es ist an der Zeit, den finanziellen Verpflichtungen nachzukommen

Ziel ist es, dass jedes Spenderland 0,7 Prozent seines Bruttonationaleinkommens (BNE) für Entwicklungshilfe zur Verfügung stellt. Dieses Ziel wird jedoch bei weitem nicht vollständig erreicht. Die von den Mitgliedern des Ausschusses für Entwicklungshilfe (DAC) der OECD öffentliche Entwicklungszusammenarbeit belief sich auf 0,33 Prozent ihres gemeinsamen Bruttonationaleinkommens.

Berücksichtigt man darüber hinaus die anhaltenden Auswirkungen der zusammenlaufenden Krisen - Konflikte, Klimawandel, unsichere Nahrungsmittelversorgung, geschwächte Gesundheitssysteme - auf die Haushalte der Länder mit niedrigem Einkommen, die bereits durch Schuldenrückzahlungen belastet sind, so ist die öffentliche Entwicklungszusammenarbeit im Vergleich zu den erforderlichen umfangreichen Investitionen nur ein Tropfen auf den heißen Stein.

Der Ukraine-Konflikt hat die durch die Pandemie ohnehin schon bestehenden Missstände noch verschärft, so dass etwa 44 Millionen Menschen von Armut bedroht sein könnten, wie eine von der ONE veröffentlichte Studie zeigt.

Darüber hinaus hat die Zerstörung ganzer Städte Millionen von Menschen dazu gezwungen, ihre Häuser zu verlassen, und militärische Taktiken wie Blockaden hatten erhebliche globale Auswirkungen und führten zu einem Anstieg der Energie- und Lebensmittelpreise.

Internationale Hilfe ist eine Frage des politischen Willens

Das breite Spektrum an zeitnah umgesetzten Lösungen zur Unterstützung der Ukraine, von Sanktionen bis hin zu medizinischer und militärischer Hilfe, zeigt, dass komplexe Transfersysteme oder Vereinbarungen nicht die wahren Hindernisse für internationale Hilfe sind. Sie sind nicht die Ursache für Verzögerungen oder Nichteinhaltung von Vorschriften. Vielmehr lässt sich daraus ein mangelndes Interesse ableiten, die prekäre Lage der Afrikaner rasch zu beenden.

Wenn die Entwicklungshilfe als Instrument zur Verwirklichung nachhaltiger Gerechtigkeit kein ausreichender Anreiz ist, um einen vollen Beitrag zu leisten, ist es für die Geber vielleicht zwingender, sie unter dem Gesichtspunkt der Wirtschaftlichkeit zu betrachten. In dem Fall verschlimmert und verfestigt das Versäumnis, frühzeitig Hilfe zu leisten, das Problem, so dass seine künftige Bewältigung, z. B. in Form von Wirtschafts- und Gesundheitskrisen, kostspieliger ist.

Es ist verständlich, dass in Zeiten mehrerer Krisen die Finanzierungsprioritäten miteinander konkurrieren. Dennoch sollte Hilfe nicht von einer Krise auf eine andere umgelenkt werden, vor allem nicht, wenn alle als Notsituationen betrachtet werden.

Dieser schleichende Prozess der Unsichtbarmachung, bei dem eine Krise aus einer Laune heraus als nicht mehr notwendig eingestuft wird, da die Statistiken den Rückzug der globalen Ressourcen nicht stützen, droht nach Angaben der NRO Oxfam fast eine Viertelmilliarde Menschen in die extreme Armut zu stürzen.

Wir brauchen eine Antwort. Wir befinden uns in einer Phase, die unsere Generation prägen wird.

Wenn wir in einer egalitären Gesellschaft leben wollen, die sich um das Gemeinwohl kümmert, sollten wir keine Unterschiede machen, wenn es darum geht, in allen notwendigen Fällen Hilfe und Unterstützung zu leisten, denn alle Kontinente bringen Synergien mit sich: Je mehr Schutz und Solidarität wir bieten, desto größer ist der gemeinsame Nutzen, den wir erzielen. Die Kosten der Untätigkeit wären unverzeihlich.


Dieser Beitrag ist Teil der Partnerschaft von Cafébabel mit der Nichtregierungsorganisation ONE und ihrer GenerAction-Kampagne. Mit Blick auf den G7-Gipfel, der vom 26. bis 28. Juni in Deutschland stattfindet, will GenerAction die Aufmerksamkeit von Entscheidungsträgern auf sich ziehen und sie auffordern, jetzt zu handeln und die Zukunft neu zu gestalten. Füge deinen Namen hinzu, um Teil der GenerAction-Bewegung zu werden.

Titelbild: Humanitäre Hilfe im Rahmen des Zivilschutzverfahrens der Europäischen Union (European Union Civil Protection Mechanism) und des UNHCR © Europäische Union

Story by

Default profile picture Guillermo San Pedro Blázquez

Youth Ambassador in Belgium at ONE. Passionate about poverty and sustainability issues.

Translated from The ‘invisibilization risk’ of humanitarian aid