Das Tattoo in Neapel ist heilig
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karin spieglVon London nach Neapel, von Madrid nach Berlin: Tätowierungen sind die neue Ausdrucksform junger Europäer. Wenige jedoch kennen die Geschichte jener Symbole, die sie sich auf den Körper zeichnen lassen. Auf den Straßen Neapels machte sich Cafébabel auf die Suche nach den verlorenen Bedeutungen.
Einmal war das Tattoo Ausdruck transgressiver Randgruppen, heute ist es ein Massenphänomen. Die traditionsbewussten Tättowierer ärgert das, denn die Symbolik verliert an Bedeutung. Die Entwicklung des Geschäftes mit der Tätowierung wurde in einer 2010 in Großbritannien durchgeführten Studie beleuchtet. Der prozentuell größte Anstieg tätowierter Personen lässt sich demnach mit Abstand in den vergangenen zehn Jahren feststellen. Circa ein Fünftel der Engländer hat eine Tätowierung, wobei sich 29% der Altersgruppe 16 bis 44 Jahren zuordnen lässt. Damit einhergehend lässt sich ein beachtlicher Zuwachs von Studios feststellen: Waren es 1990 gerade mal 300, sind es heute mehr als 1500.
DER GEHEIME CODE
Und doch, in Neapel, am anderen Ende des Kontinents, hängen Tätowierungen noch Geschichten an, die auf ihre ursprüngliche Bedeutung verweisen. Es sind Geschichten einer längst vergangenen Zeit. Einer Zeit, die nach in der Sonne trocknenden Fischernetzen und nach brennendem Weihrauch duftete. Damals als dekorierte Taschenuhren getragen wurden und Rasiermesser noch öfter im Einsatz waren. Tätowierungen waren seinerzeit ein geheimer Code: Die stille Sprache der Matrosen, Prostituierten, Sträflingen und Camorristen, deren Inhalt noch nicht von der Mode diktiert wurde und sich demnach nicht wie ein Segel im Wind drehte.
Tätowierer sind nicht länger jene Künstler, die etwas Mythenhaftes auf der Haut verewigen. Tattoos wurden ihrer Rolle als Botschafterin zerbrochener Träume, Liebe und Hass, Versprechen und nicht gehaltenen Schwüren, erotischen Verlangens und Durst nach Rache enthoben.
Über diese ursprüngliche, antik anmutende Komponente der Tätowierung wird heute nicht mehr gesprochen.
Um welche Bedeutungen handelt es sich also, die diesen Symbolen innewohnen? Mittlerweile sind Tattoos ihrer ursprünglichen Funktion als Markenzeichen einer Randgruppe entschlüpft und eingetreten in die Sphäre der allgemeinen Uniformierung.
Wo sind letztendlich die Wurzeln jenes Phänomens zu suchen?
- Filmausschnitt I Guappi (1974), von Pasquale Squitieri -
Lebendige Tinte
Lello Scarienzo, professioneller Tätowierer im „Tätowierung Point“ Studio in Neapel, kontrolliert die Maschine und ordnet sorgfältig Nadeln und Farben. Er arrangiert den Altar für die kommenden Messen. Er zieht sich Handschuhe über und lässt das Pedal knacken.
Die Wände seines Studios sind mit Skizzen, Zeichnungen und Fotografien tapeziert. Hier ist zum Beispiel das Motiv des berühmten „asso di bastone“ zu bewundern, das aufgrund ihrer phallischen Erscheinung die männliche Virilität sowie Macht und Ehre symbolisieren soll. Andere Bilder zeigen Pistolen, Messer, Totenköpfe und Rosenkränze. Auch Christus dem Erlöser und Madonna mit flammenden Herzen sind zu sehen.
Die Symbolik der Tattoos waren meist unmissverständlich: „Die Pistole trugen jene die einer besonders blutrünstigen Gruppierung angehörten“, erklärt der Tätowierer Lello. Es war das Abzeichen jener, auf deren Gewissen einige Leben lasten.
Das Messer hatte noch eine andere Bedeutung: ausstehende Rache. In Neapel ist das Profane unauflöslich mit dem Heiligen verbunden. Daher ist es nicht verwunderlich, wenn Symbole wie Pistolen, Messer oder Schlagringe auf Rosenkranzmotive und andere religiöse Bilder treffen.
„Der Rosenkranz ist ein Zeichen des Schutzes, der Hilfe, um sich beispielsweise in der Unterwelt durchzuschlagen. Das von der Dornenkrone umschlungene entflammte Herz repräsentiert das heilige Herz Jesu, die zweite Variante hingegen, umwunden mit einer Blumenkrone und durchbohrt von einem Schwert, repräsentiert das Herz der Jungfrau Maria.“ Dies alles steht im Zeichen der „memento mori“ (lat. „Bedenke, dass du sterben musst“, Anm. d. Üb.) - dem Symbol dafür, dass wir sterblich sind.
„Die Totenköpfe sind nichts anderes als Symbole des Hohnes über den Tod, um sich über die eigene Angst hinwegzusetzen, allerdings ohne die unabwendbare Verbindung zwischen Leben und Tod zu vergessen, das eine als das Vorzimmer des anderen, man macht sich also darüber lustig, hat zugleich jedoch auch großen Respekt, eine typische Charakteristik des neapolitanischen Volkes.“
All das ist Neapel und noch viel mehr: ein Ort zwischen den süßesten Träumen und den düstersten Albträumen. Wo zwischen engen dunklen Gassen und weiten, hellen Straßen. Dieser Ort lebt von seiner Seemannstraditionen und religiösen Mythen. In Neapel erneuert sich die antike und mystische Kunst der Tätowierung.
Translated from Napoli, dove il tatuaggio è sacro