Das Rascheln von Eutopia
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Europa ist in den vergangenen Jahren ziemlich unsexy geworden. Überall fehlt es an Ideen, an Mut und an handfesten Zukunftsvisionen. Doch wie soll man neuen Schwung in das Projekt Europa bringen? Der französische Philosoph und Künstler Camille de Toledo will das mit seiner neuen Ausstellung "Europa/Eutopia" tun.
Es rauscht im europäischen Birkenwald. Zwischen geköpften Baumstümpfen und zersplitterten Spiegelscheiben dröhnen dunkle Klänge aus versteckten Lautsprechern. Überall raschelt braunes Herbstlaub, das von den Besuchern der Ausstellung Europa/Eutopia in der Leipziger Spinnerei genüsslich aufgewirbelt wird. Mal erinnert die Klangkulisse an ein Scharmützel aus einer Kriegsregion, mal übertönen helle Kinderschreie und Vogelgezwitscher das beklemmende Dröhnen.
Ein paar mögliche Interpretationen werden gleich mitgeliefert: "Utopia" und "Dystopia" ist in Neonlettern an die Wand geschrieben. Glücklicherweise verspricht ein anderer Schriftzug aber "Espoir". Alle Hoffnung für Europa ist noch nicht verloren.
Doch erst einmal muss man mit CHTO, hinter dem sich der französische Künstler und Intellektuelle Camille de Toledo verbirgt, durch die Untiefen der europäischen Realität waten: "Europa hat einen Punkt erreicht, an dem es nur mehr eine hegemoniale Technostruktur ist. Dabei versucht es, seine Einheit und Identität über eine mörderische Migrationspolitik zu definieren", meint CHTO. "Europa steht für ein System aus Zwängen und Entmachtung. In diesem Sinne verstehe ich die europäische Idee als totale Dystopie."
Es raschelt also mächtig im Gebüsch rund um das europäische Fundament. Doch will CHTO nicht einfach nur die gegenwärtige Lage kritisieren, sondern neue Wege für ein Europa der Migration und Hybridisierung bahnen. Weg von Wirtschaftsgipfeln und Grenzdiskussionen, hin zu einer neuen Welt, die nicht in Historie und Erinnerungen feststeckt. Auch das symbolisieren die Birkenstämme und Laubberge: "Wälder sind für mich das Königreich der Kindheit. Unsere Welt ist zu alt, zu verfolgt und zu verhaftet in ihren Erinnerungen. Durch meinen Geisterwald erhalte ich die Kindheit in der Welt."
Während das überwiegend erwachsene Publikum andächtig durch die Ausstellung wandelt, bemächtigt sich eine Gruppe Kinder ganz selbstverständlich der Installation. Birken sind schließlich zum Klettern und Laub zum Aufwirbeln da. Keine falsche Scheu vor dem Kunstwerk also, sondern eine konkrete Auseinandersetzung mit der Bedeutung von Utopien und Dystopien. Und zur Abwechslung schimmert die Hoffnung mal nicht als Silberstreif am Horizont, sondern prangt neongrell direkt an der Wand.
Die Ausstellung Europa/Eutopia kann noch bis zum 15. Dezember 2015 im M-E Art Space, Halle 14 der Leipziger Spinnerei besichtigt werden.
Ich bin ein Berliner - dieser Artikel stammt von unserem cafébabel Berlin-Team.