Comeback des Turnbeutels: die Infantilisierung der Hauptstadtmode
Published on
Vorbei die Zeiten, in denen Ray-Bans und Jutebeutel der letzte Schrei waren. Der coole Berliner kleidet sich mittlerweile wie ein Grundschüler. Kann er so doch sowohl seinen alten Turnbeutel als auch die Wolljoppe seines Opas ökologisch korrekt recyceln. Woher kommt diese Angst vor einer erwachsenen Körperlichkeit?
„Da kommt schon der nächste Turnbeutel!“ Wer sein Feierabendbier bei frühlingshaften Temperaturen nicht wie gewohnt in einer der Szenekneipen Neuköllns, sondern auf dem Bänkchen davor genießt, mag sich gelegentlich auf dem Spielplatz wähnen. Wann genau kamen Jutetaschen aus der Mode und wurden durch Turnbeutel ersetzt? „Mittlerweile läuft fast jeder mit so einem blauen Sack auf dem Rücken herum. Mich erinnert das immer an den schrecklichen Sportunterricht in der Grundschule“, meint Christian, der schon länger im Süden Berlins lebt.
Ich wär so gern wieder ein Kind... modisch gesehen
Während der Turnbeutel den großen Nachteil hat, dass man nicht nur stundenlang mit dem Tunnelzug kämpfen, sondern auch noch eine halbe Ewigkeit nach seinem Geldbeutel kramen muss – schließlich hat das Säckchen keine Innentasche – fördert er doch die Gleichberechtigung der Berliner Männlichkeit: Auch wenn ein bärtiger Hemdträger kaum mit einer Handtasche am Handgelenk durch Neukölln wandeln würde, ist der Turnbeutel ein gendertechnisch gänzlich unproblematisches Accessoire. Schließlich trugen wir in der Grundschule alle nur Hose und T-Shirt und widersetzen uns – geschlechtsnormative Disney-Print-Sweater hin oder her – erfolgreich der Sexualisierung unserer Körper. „Der Turnbeutel ist so erfolgreich, dass er sogar fast schon Fjällräven Kanken ablöst!“, lacht Christian. Der quadratisch-praktisch-blaue Rucksack aus Schweden ist ebenfalls ein Kindheitsaccessoire, dass die deutsche Hauptstadt im Sturm erobert hat. Wer sich als Mädchen noch Söckchen und einen Pulli mit Schneewittchenmotiv zulegt, hat sein Outfit perfektioniert. Dann nur noch die Füße gekonnt nach innen drehen, wenn man vor der Kneipe seine Zigarette raucht, und man sieht wie sein eigenes verruchtes Selbst zu Grundschulzeiten aus.
Als Mann hingegen kann man entweder dem jungenhaften Matrosenstil frönen, der sich durch Ringelshirts, eine runde Streberbrille und kindlich hochgekrempelte Karottenjeansaufschläge auszeichnet. Oder aber man bedient sich an Opas Kleiderschrank: „Das ist das Paradoxe an der Sache“, meint Christian. „Viele Männer hier tragen Wolljoppen und grüne Cordhosen – wie ihre eigenen Opas.“ Auch das verträumte Spiel mit Rubiks berühmt berüchtigten Zauberwürfel ist weiterhin beliebt. Überhaupt sollte man jederzeit etwas zum Spielen oder Basteln in seinem Turnbeutel mit sich führen. Doch da mittlerweile selbst Kleinkinder schon Handys haben, sind als Ausdruck ahistorischer Absurditäten meistens auch Smartphones erlaubt.
Die ewigen Spielkinder der Generation Y
Ob Infantilisierung oder Geriatrisierung der Mode: Woher kommt diese Angst vor dem Ausdruck der eigenen erwachsenen Körperlichkeit? Der Generation Y, zu der viele Bewohner der Szeneviertel Neuköllns gehören, wird nicht umsonst ständig vorgeworfen, dass sie vor der eigenen Verantwortung fortlaufe und sich in pseudo-idyllische Spielwelten zurückziehe. Doch warum nur, fragt sich der biertrinkende Zuschauer, soll man sich an seine schreckliche Schulzeit erinnern wollen? Unglücklicherweise hat die allgemein vorherrschende Nostalgiewelle mittlerweile aber auch die eigene Kindheit erfasst, sodass wir auf den braunstichigen Fotos im Familienalbum nur noch die cool verwaschenen T-Shirts sehen und uns nicht mehr an den tränenreichen Turnunterricht erinnern.
Der Turnbeutel ist in Berlin so beliebt, dass sogar ein Elektro-Label nach ihm benannt wurde. Oliver Schories, Be (Original Mix), 2013.
Vielleicht ist das Versteckspiel in kindlichen bzw. großelterlichen Kleiderschränken aber auch Ausdruck der allgemeinen sexuellen Verunsicherung. Vor allem Männern wird – dank Emanzipation und Gender Studies – die eigene Geschlechterrolle glücklicherweise nicht mehr auf dem Silbertablett serviert. Da mag sich mancher lieber hinter die klaren Fronten, die noch zu Grundschulzeiten herrschten, zurückziehen oder sich – als Doppelgänger seines Opas – aus dem wilden Paarungszirkus verabschieden. Die Frauen befördern mit ihren mädchenhaften Outfits jedoch keineswegs einen Lolitawahn – dem japanischen Kindheitsfanatismus steht die Berliner Söckchen-und-Turnbeutel-Bewegung nun wahrlich nicht nahe.
Wie alle Trends wird aber auch die Kindheitsnostalgie in den nächsten Jahren ihrem eklatanten Gegenteil, einer hypersexualisierten Push-Up- und Muscle-Shirt-Welle, Platz machen müssen. Bis dahin ist zum Glück noch genug Zeit, um auf die Rückkehr des Brustbeutels und des Scout-Schulranzens zu spekulieren. Die sind bislang noch nicht in Neukölln gesichtet worden – aber es dauert sicher nicht mehr lange, bis die ersten Szenegänger das grün-pink-blaue Ungetüm beim Stöbern auf dem Dachboden entdecken. Und zum neonbunten Retrotrend passt ein Scout-Schulranzen natürlich wie die Faust aufs Auge.