Circulation(s): Europäisches Territorium ohne Karte
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Ein Festival für junge europäische Fotografen in Paris stellte einen Monat lang junge europäische Künstler vor. Die 37 Teilnehmenden verbanden individuelle und kollektive Welten zu künstlerischen Visionen einer gemeinsamen, supranationalen Identität: Im Mittelpunkt der Fotoausstellung standen Europas Landschaften und ihre Bewohner.
Die Stadt Paris hatte dem Festival Circulation(s) für seine europäische Fotoausstellung Räumlichkeiten in einem botanischen Garten zur Verfügung gestellt, der das einst für eine Party Marie Antoinettes hergerichtete Schlösschen Bagatelle umgibt. Vom 19. Februar bis 20. März 2011 führte eine schmale Hintertreppe neben dem Kräutergarten von der Vergangenheit in die Zukunft: In einem langgestreckten, blendend weiß gestrichenen Kellerraum vereinten sich kleinformatig auf Holz gezogene Fotografien mit Videoprojektionen, wandfüllenden Bildertapeten und Installationen zu einem paneuropäischen Panoptikum.
Allen gezeigten Arbeiten gemeinsam war das Anliegen, das europäische Territorium neu zu vermessen. Die Künstler hatten teils weite Reisen unternommen, um noch die abgelegensten Winkel zu erforschen. Francois Pinçon zum Beispiel zeichnet mit seinen weitwinkligen schwarz-weiß Aufnahmen ein Porträt des lettischen Schnees. Thomas Guyenet dokumentierte in der Serie „Atlas“ Landschaften und Menschen in verschiedenen europäischen Ländern, die er bereist hatte.
Zwei weitere junge Talente machten die Beziehung zwischen Bewohner und Wohnort zum Mittelpunkt ihrer Arbeit: Lionel Pralus sondierte „die Erinnerung eines Gebietes und seiner Einwohner“, indem er Orte fotografierte, an denen Menschen umkamen. Julien Benard nahm aus immer gleicher Perspektive ein Fenster auf, hinter dem eine Fotokopiermaschine steht. Diejenigen, die sie benutzen, sehen mal heiter, mal angespannt aus, immer jedoch ist ihre Präsenz im Raum durch die gleichen Parameter bedingt. Ähnlich seriell erschienen die Bilder Benedicte Lasalles, eine Französin, die es mittlerweile nach New York verschlagen hat: Sie fotografierte immer wieder den Blick aus ihrem Fenster. Bei jedem Foto strukturiert ein Baum im Vordergrund den Ausschnitt, dahinter sind unterschiedlichste Lebensorte porträtiert und in Beziehung zum Leben der Fotografin gesetzt.
Die urbane Landschaft steht auch in Jean-Jacques Aders Werk im Mittelpunkt. Der Künstler wirft einen negativen Blick auf unsere Alltagswelt. Seine Fotografien zeigten Versatzstücke der Kommerz-Architektur, die von der Natur überwältigt werden: So sah der Besucher zum Beispiel ein gelbes Mc Donalds „M“ aus einer Ackerfurche hervorleuchten, oder das Logo einer Supermarktkette in einem See versinken. Auch in Alban Lecuyers Fotomontage-Reihe von einstürzenden und explodierenden Häusern wird das „Individuum mit der Mutation seines Umfelds konfrontiert“. Doch am deutlichsten wird diese Idee von der Destruktion als verändernder Kraft in den Fotografien Thomas Jorions, dessen Motiv Abbruchhäuser sind.
All diese verschiedenen Perspektiven auf Europa stammen von französischen Künstlern. Und die anderen jungen Europäer? Die Fotografen, die nicht aus Frankreich stammen? Man musste sie ein wenig suchen in dieser Pariser Ausstellung. Die kitschbunten, großformatigen Bilder der Niederländerin Lucia Ganieva entführten den Betrachter mit üppigen Naturszenarien in eine schillernde Parallelwelt. Auch Jitka Horázná aus Tschechien versetzte den Besucher in träumerische Stimmung: Auf abgelaufene Fotofilme gebannte Aufnahmen zeitgenössischer Allerwelts-Situationen vermittelten mit verschwommenem Fokus und an die sechziger Jahre erinnernden Farben Ruhe und Heiterkeit. Der Grieche Pavlos Fyaskis hatte Lands End portraitiert, ein karger, irrealer Ort, an dem Grenzen ihre Bedeutung verlieren. Joana Deltuvaite aus Litauen erfasste die Europäer über ihre Konsumartikel: Vergrößerte Nahaufnahmen speckiger, verstaubter Badartikel zeichneten das Bild einer universellen Intimität des Alltags. Die Bremerin Anna Skladmann hingegen zeigte mit ihren „kleinen Erwachsenen“ einen beängstigenden Ausblick auf das Morgen: Die Kinder, die sie in den Posen und Kleidern der Elterngeneration abbildete, sind in ihren artifiziellen Rollen so überzeugend, dass Fortschritt und Veränderung ausgeschlossen erscheinen.
Ihre Bilder brachten ein insgeheim die Ausstellung dominierendes Gefühl auf den Punkt: Die Sensibilität für die historischen Gegebenheiten war in den Werken der ausgestellten Künstler präsenter als die Reflexion über die noch ungewisse Zukunft. Die Bilder waren inspiriert von den Besonderheiten verschiedener Landstriche, nicht von eventuellen Gemeinsamkeiten. Das Europa der jungen Fotografen ist ein faszinierendes Land, mit dem sich die jungen Künstler passioniert auseinandersetzen. Es ist ein Land mit Charakter, voller Abgründe, aber auch voll Schönheit. Es zeigte sich als ein Land, in dem es verkrustete Strukturen aufzubrechen gilt, in dem Wohnort und Bewohner einen nicht immer einfachen Dialog eingehen, und in dem Identität erst noch verhandelt werden muss.
Die Dominanz der französischen Künstler belegte es: Die inner-europäische Verständigung muss noch wachsen. Noch ist es trotz guten Willens und ehrgeizigen Engagements offensichtlich nicht einfach, internationale junge Künstler zu kontaktieren und unter einem Dach zu versammeln. Doch die Initiative der inspirierten Ausstellungsmacher zeigte auch: wir arbeiten daran.
Fotos: ©Circulation(s) - Festival de la jeune photographie européenne