Cédric Klapisch: "Europas Identität wurde nicht in Brüssel erfunden"
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Jan WeisenseeDer Cineast und feinfühlige Beobachter der „Generation Erasmus“, Cédric Klapisch (L'Auberge Espagnole), beschreibt im Gespräch ein etwas schlampiges aber sehr lebendiges Europa.
Herr Klapisch, Sie sind 46 Jahre alt, und damit fast so alt wie die Europäische Union. Glauben Sie, dass das europäische Kino und die Union mit der gleichen Geschwindigkeit gewachsen sind?
Nein. Ich glaube, das politische Europa und das europäische Kino haben nur wenig gemeinsam. Es gibt mehrere Europas, so wie es mehrere Frankreichs, mehrere Paris oder mehrere "Ichs" gibt. Es gibt das Brüssler Europa, das Europa der Landwirte, der Studenten, der Fußballer und das Europa der Rocker oder der Cineasten...
Das politische Europa und das europäische Kino haben nur wenig gemeinsam.
Diese verschiedenen Europas befinden sich in verschiedenen Stadien, einmal was ihr Alter betrifft, aber auch die Tiefe ihres Austausches. Mit L'Auberge Espagnole habe ich auszudrücken versucht, dass sich das politische Europa unabhängig von jenem Europa entwickelt, das seine "Teilnehmer" in den Mitgliedsstaaten bauen.
Die Studenten, die am Erasmus-Programm teilnehmen, haben eine eigene Vorstellung von einem neuen Europa, die sich nicht vollständig mit dem deckt, was Brüssel errichten will. Das Ergebnis ist, dass die 20-jährigen Jungendlichen Europa ganz persönlich und alltäglich leben. Nicht Brüssel hat die europäische Identität erfunden. Sie existierte schon lange vorher: Im regelmäßigen Austausch der Literaten, Wissenschaftler und Philosophen. Das Kino aus Hollywood wurde in den 30er und 40er Jahren stark von europäischen Regisseuren wie Josef von Sternberg, Fritz Lang und Alfred Hitchcock beeinflusst.
Ihre letzten beiden Filme L'Auberge Espagnole und Wiedersehen in St. Petersburg spiegeln den Prozess der europäischen Integration wider und zeigen eine multikulturelle Realität. Glauben Sie, dass es ein europäisches Kino gibt, das über Finanzierungsfragen von Koproduktionen hinaus geht?
Es existiert eine europäische Identität, sobald man in Amerika ist, in Asien oder Afrika. Sie existiert durch den Vergleich. Erst während meines Studiums in New York habe ich gemerkt, dass ich Dinge mit den Russen, den Italienern oder den Deutschen gemeinsam habe, die ich nie geahnt hätte. Und in dieser Zeit in Amerika habe ich gesehen, dass Marcel Proust, Molière, Shakespeare, Goethe, Dostojewski, Italo Calvino, Primo Levi oder Cervantes alle Teil eines kleinen Universums sind, zu dem ich gehöre, und von dem die Amerikaner ein bisschen weniger Bescheid wissen.
Das gilt für den Sport, für das Kino, die Politik oder die Denkweise im Allgemeinen. Das europäische Kino existiert also vielleicht nicht in Europa, aber es scheint sehr sichtbar in den USA, wo man Ihnen über Ken Loach oder Nanni Moretti, Pedro Almodovar, Patrice Chéreau oder Emir Kusturiça erzählen wird, sie seien "europäische" Autoren – mit einer Art gemeinsamer Sprache, die man bei uns selber nicht unbedingt wahrnimmt.
Was würden Sie über Ihre Filme sagen: Sind es europäische, französische Filme? Sind sie Ergebnis verschiedener Einflüsse?
In L'Auberge Espagnole sagt ein junger schwarzer Mann: "Ich habe mehrere Identitäten: Ich bin Europäer, Katalane, Spanier, aber ich bin auch Schwarzer, Afrikaner aus Gambia..." Ich denke wie er, dass man verschiedene Identitäten hat, dass sie vielschichtig sind, aber nicht unbedingt widersprüchlich oder schizophren sein müssen. Ich persönlich fühle mich sehr französisch, aber auch europäisch. Ich habe in New York studiert und fühle mich noch stark von der dortigen Kultur beeinflusst. In einer multikulturellen Welt mit vielen unterschiedlichen Einflüssen zu leben, schließt starke, national geprägte Eigenheiten nicht aus.
Wo sehen Sie Europas Zukunft?
Die ultra-liberale Wende in Europa ist eine Bedrohung für die Kultur. Ich habe mir angewöhnt zu sagen, dass Europa - im Gegensatz zu den Vereinigten Staaten von Amerika - so etwas wie die "Unvereinigten Staaten" ist. Aber seltsamerweise liegt unsere Kraft genau darin, dass wir hin und her gerissen sind in unserer Verschiedenheit. Dass wir so viele verschiedene Sprachen habe, so viele verschiedene Küchen, so gegensätzliche kulturelle Gewohnheiten, eine so vielseitige Architektur... Das alles zieht uns auseinander, aber es produziert auch eine Dynamik. In der europäischen Politik der 27 wird Erfolg extrem schwierig zu erreichen sein. Aber ich glaube, es gibt einen gemeinsamen Willen, der Ungarn, Polen, Skandinavier, Deutsche und Lateiner im Elan vereint. Was das bringen wird? Ich weiß es nicht. Vielleicht ist es chaotisch, aber sehr lebhaft.
Ihre europäischen Lieblingsregisseure?
Federico Fellini, Michelangelo Antonioni, Pier Paolo Pasolini, Pedro Almodovar, Jean Renoir, Maurice Pialat, Jean-Luc Godard, Emir Kusturiça, Ken Loach, Mike Leigh, Stephen Frears, Wim Wenders.
Welche Filme haben Ihre Begeisterung für den Stil der siebten Kunst geweckt?
Einer flog über das Kuckucksnest, Amarcord, La dolce vita, Playtime.
Die wichtigsten Jahre für das europäische Kino?
Wahrscheinlich die Sechziger. Der italienische Neurealismus, die Nouvelle Vague in Frankreich. Ich habe den Eindruck, dass die kulturelle Identität Europas in diesen Jahren sehr erstarkt ist, vielleicht, weil sie sich gerade vom Trauma des Krieges erholt hatte.
Translated from Cédric Klapisch : « L'Europe c'est chaotique et très vivant »