Camille de Toledo: "Schluss mit Vergangenheit!"
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„Die Vergangenheit ist zu präsent in der Gestaltung Europas. Wie wäre es mit etwas Zukunft?" Auch der französische Schriftsteller und Philosoph Camille de Toledo diskutierte bei „A Dispute over Europe" am 2. Mai 2014 in Berlin mit. Als Gründer der „Société européenne des auteurs" plädiert er für eine vielsprachige europäische Bürgergemeinde. Interview
Der französische Philosoph Camille de Toledo ist ein Europäer der ersten Stunde: Während seine jüdischen Wurzeln in der Türkei liegen und seine Familie über die Jahrhunderte sowohl in Spanien als auch in der Schweiz lebte, wurde er selbst in Lyon geboren, wohnt aber mittlerweile in Berlin. Sein Konzept einer „Zwischensprachlichkeit" als Ansatzpunkt für einen neuen Europagedanken speist sich aus seinem eigenen Grenzgängertum zwischen Ländern, Sprachen und Kulturen. So kann Camille de Toledo aus ganzem Herzen sagen: "I live in between languages. Je vis entre les langues. Ich lebe zwischen den Sprachen." Cafébabel hat den Philosophen am Rande von A Dispute over Europe in Berlin getroffen.
Cafébabel: Der Wahltag rückt immer näher, aber die Jugend Europas scheint das kaum zu interessieren. Warum finden Sie, dass man sich für Europa interessieren sollte?
Camille de Toledo: Weil sich Europa sonst für einen selbst interessiert. (lacht) Es ist wichtig zu erkennen, dass Europa – in der Art, wie es sich momentan präsentiert – die jüngere Generation nicht interessiert. Aber es bewegt sie auf andere Art: Die Jugend Europas ist durch grenzüberschreitende Freundschaften und Netzwerke verbunden, da ihre Kultur selbst länderübergreifend ist. In diesem Punkt ist die junge Generation sicher sehr viel europäischer als ihre Vorgänger. Man muss daher unbedingt zwischen dem Euroland, also der Brüsseler Politik und ihrer Agenda, und einer Politik der jüngeren Generation unterscheiden. Wenn man diese beiden Dinge nicht voneinander trennt, wird man weiterhin behaupten, dass sich die Jugend nicht für Politik interessiere.
Porträt des Schrifstellers und Philosophen Camille de Toledo auf Artnet.fr (2012).
Cafébabel: Inwieweit ist die europäische Jugend politisch?
Camille de Toledo: Bewegungen wie Movimiento 15-M in Spanien oder Occupy in Madrid zeigen, dass sich die Jugend sehr wohl in die Politik einmischt, aber sie hat im Gefüge der gegenwärtigen Institutionen noch keine Stimme. Die älteren Generationen weigern sich, dieser Form von „subterranean politics“ (Politik von unten, AdR), wie sie unlängst in einer Studie der London School of Economics bezeichnet wurde, Gehör zu schenken. Manche Bewegungen sind unglaublich politisch, z.B. in den Bereichen Umwelt, Datenschutz, demokratische Transparenz, Transidentität, Minderheitenrechte etc. Aber diesen Fragen wird noch nicht so viel Raum gegegeben, als dass man der jungen Generation sagen könnte: „Schaut her, eurer Politik wird Gehör geschenkt und sie verändert die Strukturen.“
Cafébabel: Kann die gegenwärtige Eurogeneration eine entscheidende Rolle in der europäischen Politik spielen?
Camille de Toledo: Ich bin überzeugt, dass wenn morgen oder in zehn Jahren eine europäische Bürgerbewegung entstände, dann gingen unglaublich viele Jugendliche auf die Straße. Denn zum einen sind die gegenwärtigen Lebensumstände, die hohe Arbeitslosigkeit und ähnliche Probleme von politischen Entscheidungen in Brüssel bzw. in den einzelnen Ländern ausgelöst worden. Zuallererst braucht es aber eine Protestbewegung. Doch im Moment schaffen wir es einfach nicht, eine solche Protestbewegung, die einen europäischen Standpunkt einnimmt, anzufachen.
Cafébabel: Warum liegt in der Übersetzung der Schlüssel zur Zukunft Europas?
Camille de Toledo: Meiner Meinung nach ist Übersetzung einer der Schlüssel zu einer europäischen Staatsbürgerlichkeit. Wenn man eine europäische Nation schaffen will, wird man unmittelbar mit der Frage nach einer gemeinsamen Sprache konfrontiert. In welcher Sprache kann man sich aber über ein „political common“ (gemeinsame politische Grundlage, AdR) aufregen, das selbst vielsprachig und fragmentarisch ist? Man muss die europäische Staatsbürgerlichkeit im Kontext einer Übersetzung zwischen Ursprungs- und Ankunftskultur denken, zwischen Ursprungs- und Ankunftssprachen, aber auch zwischen Geschlechtern, zwischen weiblich und männlich. Auch diese Themen bewegen die Jugend von heute.
Cafébabel: Was ist das Ziel der Société européenne des auteurs, deren Gründer Sie sind?
Camille de Toledo: Die Société européenne des auteurs (Europäische Autorengemeinschaft, AdR) wurde 2008 gegründet als literarische und intellektuelle Gemeinschaft, die sich ganz der Übersetzung verschrieben hat. Bis jetzt fragen sich die alten Institutionen und Eliten in Brüssel noch nicht, um welche Sprache es eigentlich geht oder welches Gefühl uns emotional an einen politischen Raum bindet. Wenn wir es nicht schaffen, die Menschen von Europa zu überzeugen, dann liegt das auch daran, dass gegenwärtig ein Erinnerungsaffekt vorherrscht, wir also nur Aufforderungen hören wie: „Erinnert euch an den Zweiten Weltkrieg! Erinnert euch an das, was damals geschah!“ Diese Geschichten bewegten die Generation von Mitterrand, Kohl oder auch Delors. Heutzutage kann dieser Erinnerungsaffekt die junge Generation aber nicht mehr bewegen. Denn die lebt in einer Kultur der Hybridisierung, der Übersetzung und der länderübergreifenden Nationen. Die Vergangenheit ist zu präsent in der Konstruktion Europas. Wie wäre es mit etwas Zukunft?
CAFÉBABEL BERLIN STREITET ÜBER EUROPA
Cafébabel Berlin ist offizieller Medienpartner von A Dispute over Europe. Ab dem 2. Mai 2014 könnt ihr hier Interessantes vom Kongress und Interviews mit den verschiedenen Panelteilnehmern lesen. Mehr Updates gibt es wie immer auf Facebook und Twitter.