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Camille de Toledo: Ist ein europäisches Volk möglich?

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BerlinPolitik

Wie ge­stal­ten wir ein neues Eu­ro­pa und wel­che Spra­che spricht es? Am 23. Sep­tem­ber 2014 wer­den sich Schrif­stel­ler, Phi­lo­so­phen und Künst­ler im Rah­men der Kon­fe­renz SE­CES­SI­ON der Zu­kunft der eu­ro­päi­schen Idee wid­men. Ca­mil­le de To­le­do denkt schon jetzt dar­über nach, wie es mit Eu­ro­pa wei­ter­ge­hen kann. Ein Gast­bei­trag

In einer Zeit, in der die Eu­ro­päi­sche Union die bit­te­ren Eu­ro­pa­wahl­er­geb­nis­se zu verkraften hat, soll­ten wir für einen Mo­ment ver­su­chen, in die Zu­kunft zu bli­cken. Wir wis­sen, dass eine po­li­ti­sche Eu­ro­päi­sche Union lang­fris­tig nur dann ak­zep­ta­bel und denk­bar ist, wenn sich dar­aus ein eu­ro­päi­scher Demos (ein eu­ro­päi­sches Volk, AdR) ent­wi­ckelt, eine Na­ti­on über die Na­tio­nen hin­aus­ge­hend. Die EU braucht ein Volk, denn ohne die­ses blie­be von der De­mo­kra­tie nur „kra­tos”, die Macht. Die Ab­we­sen­heit des Volkes führt zum Er­folg der Se­pa­ra­tis­ten und Po­pu­lis­ten und einer star­ken Be­we­gung der iden­ti­tä­ren Re­ter­ri­to­ria­li­sie­rung.

Wie ent­steht eine eu­ro­päi­sche Na­ti­on? 

Um der re­du­zie­ren­den Sicht­wei­se auf das „eu­ro­päi­sche Wesen” zu ent­geg­nen, soll­ten wir drin­gend nach einer eu­ro­päi­schen Na­ti­on rufen: das Stich­wort zur of­fe­nen Na­tio­nen­bil­dung in einem mehr­spra­chi­gen Raum wie Eu­ro­pa, mit viel­schich­ti­gen Ge­schichts- und Exil­er­fah­run­gen, zur Öff­nung ge­gen­über Wis­sen, Bil­dung und Kennt­nis, be­freit von Ängs­ten ge­gen­über den an­de­ren, ge­prägt von Eman­zi­pa­ti­on und einer Neu­de­fi­nie­rung der bür­ger­schaft­li­chen Ver­bin­dun­gen, wäre für mich die­ses eine: Über­set­zung. Die­ses Wort bil­det den Schlüs­sel zu einem neuen Den­ken der öko­lo­gi­schen und po­li­ti­schen Bür­ger­schaft, die ver­schie­de­ne Iden­ti­tä­ten zu­lässt. Mein Traum von die­ser neuer Na­ti­on ist es, dass sie sich so­fort in Be­we­gung setzt, um das eu­ro­päi­sche Pro­jekt wie­der zu be­le­ben. Lei­der ver­har­ren wir nach wie vor in alten Denk­mus­tern, in wel­chen die Zu­ge­hö­rig­keit zu einer Na­ti­on etwas an­ge­bo­re­nes ist, aus­ge­hend von Mut­ter­spra­che, Bil­dung, Wer­te­ge­mein­schaft, Ge­schich­te, Kul­tur, Ter­ri­to­ria­li­tät und Gren­zen.

Dabei leben wir doch längst in einem mehr­spra­chi­gen, plu­ri­na­tio­na­len Raum. Wir leben in Zwi­schen­räu­men, zwi­schen Rea­li­tät und Fik­ti­on, zwi­schen zwei Län­dern, zwi­schen der ge­wähl­ten und der Ge­burts­stadt. Die Eu­ro­päi­sche Union hat einen Markt ent­wor­fen, kein „Land“. Die Dinge kön­nen sich über einen Markt ent­wi­ckeln, doch die Men­schen brau­chen ein „Land“. Wel­ches Land, wel­che neue Form der Bür­ger­schaft könn­te der Anker im eu­ro­päi­schen Raum sein? Den zu­künf­ti­gen Eu­ro­pä­er kann man sich als Bür­ger-Über­set­zer oder „Trans-Bür­ger“ vor­stel­len: Zum einen als Up­ge­gra­de­ten, wie Jo­a­quin Pho­enix im letz­ten Film von Spike Jonze, der per­ma­nent mit einer künst­li­chen In­tel­li­genz ver­bun­den ist. In die­sem Fall hät­ten wir den post­hu­ma­nen Traum von Si­li­con Val­ley ak­zep­tiert. Wir wür­den Goog­le-Bril­len tra­gen, die die Zei­tungs­lek­tü­re au­to­ma­tisch über­set­zen. Ein mit einem Sprach­er­ken­nungs­sys­tem ver­bun­de­nes Mikro würde uns, wie C-3PO in Star Wars, be­fä­hi­gen, alle eu­ro­päi­schen Spra­chen zu ­spre­chen. Doch stellt man sich den eu­ro­päi­schen Bür­ger in dieser Gestalt vor, dann igno­riert man die Frage der „Na­ti­on”, wie auch die Frage nach der emo­tio­na­len Be­deu­tung von Spra­che.

Wir brau­chen ein emo­tio­na­les eu­ro­pa

Der de­mo­kratische Demos wird nicht aus in­sti­tu­tio­nel­len An­ord­nun­gen ra­tio­nel­ler Bür­ger ge­bo­ren, son­dern aus einer ge­mein­sa­men Emo­ti­on im Rin­gen um Frei­heit und Eman­zi­pa­ti­on. Wol­len wir uns wei­ter­hin eu­ro­pä­isch füh­len, dann im Namen einer af­fek­ti­ven Bin­dung zu einer li­te­ra­ri­schen, in­tel­lek­tu­el­len, künst­le­ri­schen oder per­sön­li­chen Ge­schich­te von in­ter­kul­tu­rel­len Be­zie­hun­gen. Es geht also darum, diese Op­po­si­ti­on zwi­schen einem af­fek­ti­ven Eu­ro­pa und einem Eu­ro­pa ohne Af­fek­te, einem er­sehn­ten, emo­tio­na­len Eu­ro­pa und dem Eu­ro­pa des Eu­ro­lands, das zu einer re­ak­tio­nä­ren Ma­schi­ne ge­wor­den ist, be­wusst zu er­ken­nen.

Von die­sem Bruch aus­ge­hend schla­gen wir vor, eine Poe­tik des Da­zwi­schen zu ent­wi­ckeln, ein ge­teil­ter Af­fekt, um die alten EU-Funk­tio­nä­re zu er­schüt­tern und eine neue po­li­ti­sche Vi­si­on des eu­ro­päi­schen Raums im 21. Jahr­hun­derts voran zu brin­gen. Im Eu­ro­pa des 21. Jahr­hun­derts, in dem sich Kul­tu­ren und Spra­chen mi­schen, in dem junge Spa­ni­er rei­hen­wei­se ins Ar­beits­exil nach Deutsch­land gehen, Polen, junge Tu­ne­si­er oder Chi­ne­sen nach Frank­reich, Dä­ne­mark oder Ita­li­en emi­grie­ren, ist Über­set­zung keine An­ge­le­gen­heit kos­mo­po­li­ter Eli­ten mehr. Sie wird zum Herz­stück un­se­rer Be­zie­hung zur Welt. Die Af­fir­ma­ti­on einer Bür­ger­schaft der Über­set­zung wäre in Eu­ro­pa eine drei­fa­che Re­vo­lu­ti­on:

1. Den zu schaf­fen­den Demos als ein Be­mü­hen der Über­set­zung zwi­schen den viel­fäl­ti­gen Iden­ti­tä­ten be­grei­fen.

2. Die Auf­recht­er­hal­tung eines po­li­ti­schen Be­wusst­seins des Sprach­li­chen, im Ge­gen­satz zur Ent­wick­lung einer tech­no­kra­ti­schen oder einer Ma­schi­ne über­ant­wor­te­ten Spra­che.

3. Das eu­ro­päi­sche Pro­jekt auf etwas auf­bau­en, das Mi­gra­ti­ons­kul­tu­ren nicht zu­rück­weist, son­dern zu einem sei­ner Be­zugs­punk­te macht.

Wenn wir nach die­sen Wah­len den Ver­lust des eu­ro­päi­schen Ge­fühls be­kla­gen, dann liegt das daran, dass sich die­ses Ge­fühl in dem Mo­ment ab­schwächt, in dem wir von einer er­in­nern­den Ge­ne­ra­ti­on zu einer ver­ges­sen­den Ge­ne­ra­ti­on über­ge­hen. Wir kön­nen das Ver­ges­sen nicht ewig ver­mei­den. Die Ver­gan­gen­heit, die das eu­ro­päi­sche Pro­jekt le­gi­ti­miert und ge­prägt hat, ent­fernt sich. Aus die­ser Ver­gan­gen­heit hat sich ein eu­ro­päi­sches Phan­tom­volk ent­wi­ckelt. Wir haben die EU um ein nicht vor­han­de­nes Volk, ein Volk der Toten auf­ge­baut. Doch wenn wir das Eu­ro­pa-Pro­jekt im 21. Jahr­hun­dert voranbringen wol­len, dann soll­ten wir die Basis dafür auf einer zu­künf­ti­gen Na­ti­on auf­bau­en, in der es Hoff­nung und An­spruch gibt. Unser Wunsch ist es doch, dass diese Na­ti­on wa­ge­mu­tig ist. Und wenn wir be­reits jetzt wis­sen, dass Über­set­zung ihre Spra­che ist, dann soll­ten wir aus die­ser Spra­che den Sinn, die Ethik sowie eine Po­li­tik der Ima­gi­na­ti­on be­zie­hen.

Ber­lin/Paris, Mai 2014. Über­set­zung: Da­nie­la Di­be­li­us

KEINE ANGST VOR DER EU­RO­PÄI­SCHEN IDEE

Im Sep­tem­ber und Ok­to­ber 2014 wird in der Ver­an­stal­tungs­rei­he SE­CES­SI­ON über ein Eu­ro­pa nach den Bü­ro­kra­ten dis­ku­tiert. Wie kann das aus­se­hen und wel­che Rolle spie­len Künst­ler, Schrift­stel­ler und Über­set­zer dabei? Da Cafébabel Ber­lin über­zeugt ist, dass Eu­ro­pa ver­rück­te Viel­falt und nicht blut­lo­ser Ver­ord­nungs­wahn be­deu­tet, sind wir na­tür­lich bei SE­CES­SI­ON als of­fi­zi­el­le Me­di­en­part­ner dabei. Mehr wie immer auf Face­book und Twit­ter.