Bulgarischer Sommer in Sofia: Das Parlament ist besetzt
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Die bereits seit Wochen andauernden Proteste in Bulgarien spitzen sich zu: Hunderte Demonstranten haben in Sofia das Parlament blockiert. In der Nacht zum Mittwoch saßen mehr als 100 Abgeordnete, Minister und Journalisten im Parlament fest. Bereits seit Wochen demonstrieren viele Bulgaren in der Hauptstadt gegen die Regierung, Vetternwirtschaft und Korruption.
Im rötlichen Schein der Straßenlaternen zwischen der Alexander-Newski-Kathedrale und der Bulgarischen Volksversammlung stemmen sich am Dienstagabend um 22 Uhr überforderte Polizisten gegen die zahlenmäßig weit überlegenen Demonstranten. Die Ordnungshüter sollen einem weißen Reisebus den Weg bahnen, in dem die Minister für Finanzen, Wirtschaft und Soziales sowie Abgeordnete der sozialistisch geführten Regierungskoalition sitzen.
Gellende Pfiffe und „Mafia! Mafia!“-Rufe erzeugen ohrenbetäubenden Lärm, schließlich entlädt sich die extreme Spannung in Steinwürfen auf den Bus und Schlagstockprügel auf die Köpfe Protestierender. Nachdem an dem Fahrzeug Scheiben zu Bruch gegangen sind, dreht es um und bringt die Politiker zurück zum Parlamentsgebäude. Dort werden sie mit ihren Kollegen bis zum Morgengrauen ausharren müssen. Der sozialistische Volksvertreter Anton Kutev zeigt einen in den Bus geschleuderten Stein in die Fernsehkamera: „Mit dem kann man Menschen töten“, sagt er geschockt.
Mit der Blockade des Parlaments hat die sogenannte „DANS-With-Me“-Bewegung in der Nacht vom 40. zum 41. Tag ihrer Existenz ihre Unschuld verloren. Sie ist inzwischen offiziell Bulgariens ausdauerndste Protestbewegung seit dem Sturz des kommunistischen Regimes im November 1989. Ihre Initialzündung hatte sie am 14. Juni 2013 als Reaktion auf die skandalöse Berufung des Medienoligarchen Deljan Peevski zum Chef des Geheimdienstes DANS. Seitdem hat sie täglich mit friedlichen und fantasievollen Aktionen in Bulgariens Hauptstadt den Rücktritt der von Ministerpräsident Plamen Orescharski geführten Regierung gefordert. Für viele Bulgaren steht die Berufung des Geheimdienstchefs für ein korruptes politisches System, gegen das sich die Demonstrationen ebenfalls richten.
Wer nun die Verantwortung trägt für den Sündenfall der gewalttätigen Ausschreitungen mit Verletzten auf beiden Seiten, ist strittig. Das bulgarische Helsinki-Komité wirft der Polizei „Übergriffe gegen friedliche Demonstranten“ vor, Innenminister Tsvetlin Jovtschev lobt dagegen „die besonnene Reaktion der Beamten auf die Aggression der Demonstranten“. Und Sprecher der Protestbewegung wollen „Agents Provocateurs“ gesehen haben, wie sie Steine warfen und mit Gehwegplatten Barrikaden bauten.
Im Zentrum steht jedoch die Frage, wie Bulgarien aus seiner seit fast zwei Monate andauernden politischen Blockade herausfinden kann. Für die Dauerdemonstranten liegt die einzig mögliche Antwort im sofortigen Rücktritt des Kabinetts Orescharski. Jedoch schließt der Regierungschef selber seine Kapitulation kategorisch aus.
Es gibt aber eine andere Vermutung, warum gerade jetzt die friedlichen Proteste in Gewalt umgeschlagen sind: Zum ersten Mal haben am Dienstag wieder Abgeordnete der im Februar abgewählten ehemaligen Regierungspartei GERB an der Parlamentsarbeit teilgenommen. Damals hatten Demonstranten mit ihren tagelangen Protesten gegen zu hohe Strompreise die rechtskonservative Regierung von Ministerpräsident Bojko Borissov zum Rücktritt gezwungen. Dessen Partei boykottiert bereits seit Wochen das Parlament. „Die Proteste waren nicht zufällig. Offensichtlich möchte jemand den Sturz der Regierung und Neuwahlen um jeden Preis und so schnell wie möglich erzwingen“, schiebt Sozialistenführer und Ex-Ministerpräsident Sergje Stanischev dem politischen Gegner die Verantwortung zu.
Im Mai war GERB aus der Parlamentswahl zwar als stärkste Kraft hervorgegangen, konnte mangels Koalitionspartner aber keine Regierung bilden. Borissov erklärte daraufhin die Wahlen für unrechtmäßig, nach der Wahl Peevskis zum DANS-Chef erklärte er den Auszug seiner Fraktion aus dem Parlament. Zahlreiche europäische Politiker haben in den vergangenen Wochen an ihre bulgarischen Kollegen appelliert, eine einvernehmliche Lösung der politischen Krise zu suchen. Die neuesten Vorfälle dürften eine solche weiter erschweren.
Ein Feature von n-ost-Korrespondent Frank Stier, Sofia