Brunch mit Lew Tolstoi: 100 Mal gestorben, um die Welt zu verändern
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Jeannette Carolin CorellHeute, am 20. November 2010, stirbt Lew Tolstoi zum einhundertsten Mal. Dieses wiederholte Ableben ist das schwere Schicksal aller Unsterblichen. Und er ist einer von ihnen. Meisterwerke wie Krieg und Frieden oder Anna Karenina sind ebenso unsterblich wie anspruchsvoll.
Und auch heute noch, in der Internet-Ära, haben junge Leute aus aller Welt (auch unsere redaktionelle Koordinatorin) keine Angst davor, sich mit ihnen zu konfrontieren. Cafebabel.com ist es gelungen, ihn zu treffen, bevor er seinen letzten Zug nahm.
Wir haben eine Verabredung am Bahnhof von Tula in Russland, 165 Kilometer von Moskau entfernt. Es ist kurz vor Sonnenaufgang und ich stehe hier und erwarte ihn. Im Herbst ist die Kälte bereits unnachsichtig und sticht in die Seiten wie die Zinken einer Harke. Einen Augenblick lang denke ich, ich muss verrückt gewesen sein, herzukommen, und will schon fast wieder gehen. Da höre ich eine Stimme, schwer, von der Atemnot gebrochen: „Weg! Ich muss weg hier!“ Er ist es. In einen schweren Wollmantel gehüllt und mit tiefen Falten, die sich unter dem weißen, langen Bart tief in sein Gesicht graben. Er wirkt müde, schwach, ausgemergelt. Aber aus seinen Augen sprüht Hoffnung. Er dachte, der Zug zur Krim sei schon hier, aber zu meinem Glück ist er es noch nicht. „Warum solche Eile?“, frage ich eingeschüchtert. „Wegen meiner Frau Sofja… aber was weißt du schon. Du bist jung und noch nicht verheiratet“, antwortet er. „Die denken bloß ans Geld“, sagt er, „sind wie besessen, sie, meine Kinder… alle! Kein Zweifel, sie würden mich umbringen für mein Testament… ich muss weg hier! Nur weg hier!“
Lew, die Frauen und die Gesellschaft
Ich habe gleich das Gefühl, seine Beziehung zum zarten Geschlecht kann nicht die Beste sein. „Kennst du die Hauptfigur aus der Kreutzersonate?“, fragt er mich keuchend. „Ja“, sage ich, „das ist Wassili Posdnyschew, der Mann, der aus Eifersucht brutal seine Frau ermordet“. Und er: „Willst du mehr wissen? Wassili bin ich. Ich bin der Mörder meiner Frau.“ „Was?“ frage ich. „Gut, sagen wir, ich wäre es gern gewesen. Du kannst dir nicht vorstellen, wie oft ich es tun wollte. Frauen interessiert nur Geld.“
Ich bin verwirrt. Und denke an die dreizehn Kinder, die er mit seiner Frau hatte. Ich frage: „Haben Sie auch an Ihre Frau gedacht als Sie Anna Karenina schrieben?“ „Ja, aber in diesem Roman ist nicht sie das Problem. Hier sind es all die anderen… oh, all die anderen sind auch nicht besser. Hier ist die Gesellschaft der Mörder. Scheinheiligkeit, Materialismus: Das sind ihre Mörder! Wie du siehst, mein junger Freund, spreche ich niemanden frei.“ Dieses Universum von Lew ist zynisch und opportunistisch, gar nicht so verschieden von dem heutigen. Oder von jenem, das den armen Iwan Iljitsch, Hauptfigur einer seiner Erzählungen, umgibt. Dieser stirbt an einer simplen Hüftverletzung, aber in seiner Krankheit unterschätzt ist es, als sterbe er ein zweites Mal, zerfleischt von den Hyänen, die scheinbar nichts anderes herbeisehnen als seinen Tod. „Was für ein trostloses Bild“, schließe ich.
Krieg, Frieden und Bourgeoisie
„Aber Iwan Iljitsch hat das Licht gesehen! Als er starb, sagte er: Welche Freude!“, kommt prompt die Antwort, als könne er meine Gedanken lesen. „Auch für mich wird es bald soweit sein. Was für eine Erleichterung! Die Hölle habe ich mit eigenen Augen gesehen, mehrmals. Als ich 20 war, dachte ich an nichts anderes als an Feste und das Spiel. Dann haben mich zwei Personen gerettet: Turgenew, der mir Geld gab und mich so vor dem Glücksspiel schützte, und Rousseau, der mir den rechten Weg gewiesen hat.“
Und dann der Krieg: „In Sebastopolis, auf dem Feld, in der Schwebe zwischen Leben und Tod, beschloss ich, mich von meinen Lastern zu befreien. Ich begann, von einer guten, gerechten Gesellschaft zu träumen und davon, nach einem puren, naturgemäßen Leben zu streben.“ „So sehr, dass Sie sogar Vegetarier wurden?“ füge ich an. „Ich ertrug das Leiden nicht mehr, nicht einmal das der Tiere. Ich wurde Vegetarier und habe auf alles verzichtet. Luxus und all die Dinge, die mich umgaben, interessierten mich nicht mehr.“ „Ein Vorläufer der Ökologen“, wage ich einzuwerfen. „Ich weiß nicht, wovon du redest. Aber eins ist sicher. Meine Frau mag Ökologen nicht… mit ihr begannen die Dinge in den Abgrund zu stürzen. Und Fleisch schmeckt ihr hervorragend.“ Ebenso wie den Hauptfiguren seiner Romane, die ganz versessen darauf sind, bei ihren Gelagen die Zähne ins Saftige zu graben.
„Während Sie vom Wildbraten zur geweihten Hostie gepilgert sind“, sage ich. „Sieh es wie du willst. Tatsache ist, dass der Kirche meine Ideen nicht gefallen haben. Ich wurde exkommuniziert, man drohte, mich in ein Kloster einzusperren… aber zum Glück war ich da schon recht berühmt, ab und zu ist das nützlich.“ Was war revolutionär an Ihrem Denken? „Ich weiß es nicht. Vielleicht die Tatsache, dass es sich eben nur um meinen Gedanken handelte. Den Heiligen Schriften des Christentums habe ich buddhistische, taoistische und philosophische Texte zur Seite gestellt, und dies gefiel der offiziellen Religion natürlich nicht.“
Die Zeit ist um. Der Zug fährt ein. „Und jetzt entschuldige mich bitte… nun gönne ich mir endlich das Leben, das ich mir wünsche, weit fort von allen und allem“, sagt er. Und dann steigt er ein, in ein Abteil der dritten Klasse, ganz ohne Gepäck. Bei ihm ist nur sein vertrauter Arzt und Freund Makowitzki, den er schon bald dringend brauchen sollte, wenn auch vergebens. Ich wusste, dass seine Reise vorzeitig enden würde, am Bahnhof von Astapowo, umgeben von einer Menschenmenge in Tränen. Und auch er wusste es. „Gute Reise, Meister“, sage ich, während der Zug ihn ein weiteres Mal in Richtung Tod fährt, oder in „sein“ wahres Leben.
Fotos: (cc)wikicommons
Translated from Intervista a Lev Tolstoj: cento volte morto per cambiare il mondo